Enjoy Jazz

Musik für eine sterbende Schildkröte

Istanbul-Abend im Alten Kino Franklin zündet nicht

Von 
Stefan M. Dettlinger
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Dilan Balkay. © Enjoy Jazz

Ein überschatteter Beginn der Woche, in der sich das Enjoy Jazz Festival seit dem Wochenende international präsentieren will. Sieben Tage in Folge sollen internationale Perspektiven den Blick auf den Jazz und Anderes öffnen. Jeden Tag eine neue. Den Anfang mit einer Reihe von durch Gäste kuratierten Programmen aus London, New York, Mali, Uganda, Korea und Israel macht im Alten Kino auf Franklin das Istanbul Jazz Festival mit zwei auserwählten Acts.

Doch vor Beginn gleich eine Hiobsbotschaft – verkündet von Mister Enjoy Jazz direkt vor Konzertbeginn: Durch den Krieg zwischen Palästinensern und Israelis muss der dritte Tag am Dienstag im Heidelberger Karlstorbahnhof abgesagt werden: Das Nigun Quartett, so Festivalchef Rainer Kern, könne derzeit zwar ausreisen, doch seien alle Flüge von Deutschland nach Israel gestrichen. Das vom Summertime TLV JazzFest präsentierte Konzert wird Kern zufolge „zum nächstmöglichen Zeitpunkt“ nachgeholt – Ausgang: offen.

Moderater als die Avantgarde

Dass einige Kunstformen in unseren mitteleuropäischen Breiten sich vollkommen anders entwickelt haben und noch entwickeln als anderswo auf der Welt, verrät allein der Blick auf die Szenen zeitgenössischer Musik etwa in Russland, dem Baltikum oder den USA. Weit weniger wurde dort gemeinhin die Avantgarde forciert, sind moderatere Weiterentwicklungen vieler Kunstformen festzustellen.

Der Istanbul-Abend bestätigt das musikalisch für den Jazz eher. Sowohl das Trio des Tasra Trilogy Project um Pianist Yigit Özatalay als auch die Trompeterin und Singer-Songwriterin Dilan Balkay mit ihrer Band sind – jeweils auf eigene Art – in allzu bekannten musikalischen Gefilden zu verorten. Es sind allein die abgespielten Szenen aus Filmen von Nuri Bilge Ceylan, die verstörend wirken und zu denen das Trio live spielt: grausame Kinder, lustige Alte, gelangweilte Männer und Frauen werden da in einer lapidaren Welt gezeigt, in der nichts passiert als Nebensächliches. Natur, Gräber, eine sterbende Schildkröte oder ein Esel in ihren Beziehungen zum Menschen stehen im Zentrum. Gesprochen wird eher nicht. Das ist harter Tobak. Die Sache gerät viel zu lang, und das Trio mit Saxofonist Baris Ertürk, Drummer Mustafa Kemal Emirel und Özatalay verharrt stark in der immergleichen melancholischen Nuance im Quintfallsequenz-Stil von „Autumn Leaves“.

Bei Dilan Balkay ist das ähnlich. Auch was sie macht, ist eher gängiger, spaciger Pop mit viel Delay und einem zarten Jazzeinschlag immer dann, wenn sie zur (oft gestopften) Trompete greift. Sie hat einen hyperaktiven Drummer (Berke Köymen) dabei, der nicht nur unfassbare, virtuose Fill-Ins spielt, sondern auch mit Klängen aus dem Laptop Emirhan Özer (Gitarre) und Atakan Kotiloglu (Bass) dominiert. Diese tanzbare Musik ist im vollbestuhlten Saal an der falschen Stelle und verlangt nach freier Beinarbeit. Nur so hätte dieser türkische Pop, der zeitgenössischen Popströmungen etwa aus Frankreich ähnelt, eine Chance, Atmosphäre zu verströmen. Die überaus melodische Darbietung mit harten Grooves gerät sehr cool, distanziert und letztlich eben nicht ganz zündend. Schade.

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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