"Erzähl mir was"

"MM"-Schreibwettbewerb "Erzähl mir was": Gletschermilch am Nordseestrand von Achim Stößer

Der letzte Eisbär stirbt, genetische Hybride sind normal und Todesopfer eines Amoklaufs werden öffentlich dargestellt. Sieht so unsere Zukunft aus?

Von 
Achim Stößer
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Bild: istock © Getty Images

Die fast handtellergroße, leuchtend gelbe, schwarz gezeichnete Jorospinne kämpfte gegen den Luftstrom der Klimaanlage.

Malte und Bonnie saßen am Stammtisch und warteten schweigend auf die anderen.

„Sag mal, Malte, du arbeitest doch als Tierpfleger im Zoo, nicht?“, fragte Bonnie, als ihr die Stille zu unangenehm wurde.

„Jo.“ Nicht mal sein wohlverdientes Feierabendbier konnte man in Ruhe trinken.

„Hab’ gehört, dass da die Tage der letzte Eisbär gestorben ist.“

„M-hm.“

„Gibt ja keine mehr in freier Wildbahn, was?“

„Nö.“

„Außer AHABs natürlich“, beeilte sie sich zu ergänzen, um nicht Personen, denen bei der Geburt, ohne dass sie sich dazu hätten äußern dürfen, willkürlich allein aufgrund der äußeren Erscheinung fälschlich die menschliche Spezies zugewiesen worden war, zu diskriminieren.

„Können wir nicht in Zoos halten.“

„Weshalb eigentlich nicht?“, wollte sie fragen, schließlich waren nur Menschenzoos seit anderthalb Jahrhunderten verpönt, und es wäre transphob, AHABs als Menschen zu behandeln; sie verkniff sich die Frage jedoch. Andererseits hatte das wohl denselben Grund, aus dem nicht nur Männer, sondern auch Transfrauen der Wehrpflicht unterlagen, aber das war schließlich nicht ihr Problem, und irgendwelche seltsamen Ausnahmeregelungen gab es immer. Ohnehin entpuppten sich AHABs üblicherweise als Katzen, Fuchs- oder Wolfswelpen; von Eisbären, Tapiren, Nacktmullen oder Bandwürmern, die bei der Geburt für Menschen gehalten worden waren, hatte sie noch nie gehört. „Als Kind habe ich welche gesehen“, fuhr sie fort. „Eisbären. Im Zoo, hinter der Glasscheibe. Wie sie getaucht sind, umhüllt von sprudelnden Luftblasen. Kamen mir riesig vor. Also, die Eisbären. Jetzt ist der letzte weg. Ist ja schon schade, ne.“

„Klar.“

„Was macht ihr denn nun?“

„Machen?“

„Hat ja bestimmt einen Haufen Besucher angelockt, so ein letzter Eisbär.“

„Schon.“

„Ja und nun?“

„Bärenschinken, Bärentatzen, usw. sind verkauft. Das Fell wird versteigert.“

„Und dann? Wie wollt ihr zukünftig Besucher anziehen?“

„Prizzlys.“

Achim Stößer



Geboren 1963 in Durmersheim studierte ich an der Universität Karlsruhe Informatik, lebe in Bad Orb und schreibe überwiegend Science-Fiction.

Mein erster Erzählband, „Virulente Wirklichkeiten“, erschien 1997 im dot-Verlag, meine Story-Sammlung „Die dunkle Seite der Erde“ 2024 bei p.machinery.

Als Angehöriger einer ethischen Minderheit gründete ich 1998 die Tierrechtsinitiative Maqi; entsprechend zählen Antispeziesismus (und damit Veganismus), Antitheismus, Antisexismus, Antifaschismus usw. zu den Hauptthemen meiner Kurzgeschichten und auch meiner Cartoons.

Mehr auf meiner Website achim-stoesser.de.

Draußen fielen Schüsse. Instinktiv blickten beide zum Fenster, das aber, Stunden vor Sonnenuntergang, lichtundurchlässig geschaltet war. Sie lebten in einer ruhigen Gegend, kaum Drogenhandel, ein bisschen Gras, Speed, Nikotin, Alkohol, Skywave, Blisster, Shrooms, Aquatrance; keine Bandenkriminalität. Vermutlich hatte die Polizei nur wieder auf einen Amokläufer, einen militanten Veganer oder einen Klimajammerer geschossen.

„Prizzlys?“

Malte seufzte. Dass Bonnie nicht mal ein paar Minuten die Klappe halten konnte. „Der Direktor lässt jetzt als Ersatz drei Prizzlys kommen. Bären sind Bären. Und Prizzlys praktisch halbe Eisbären.“

Endlich hatte die Spinne den Lüftungsschlitz erreicht und klammerte sich nun an dessen Rand. Ihre Größe und Färbung wies sie als eindeutig weiblich aus. Eigentlich in Asien beheimatet, hatten die Jorospinnen sich längst in Europa ausgebreitet, dank der Fähigkeit ihrer Jungen, mithilfe von Ballons aus Spinnenseide hunderte Kilometer weit mit dem Wind zu fliegen; und aufgrund der klimatischen Veränderungen natürlich.

„Oh, du meinst Grizzlys?“

„Nix“, nuschelte Malte mit biervollem Mund. Mit leicht geöffneten Lippen saugte er Luft durch die Zahnzwischenräume, sodass der Schluck Bier in seinem Mund blubberte und großblasiger Schaum seinen Rachen füllte. Dann schluckte er hörbar. „Schon vor einem dreiviertel Jahrhundert, kurz nach der Jahrtausendwende, haben die Eisbären angefangen, sich mit Braunbären zu paaren.“ Gedankenverloren malte er mit der Fingerspitze in ein paar verschütteten Tropfen auf der Speisekarte in der Tischplatte herum, die durch die Oberflächenspannung als Vergrößerungslinse wirkten und so einzelne Pixel wie unter einer Lupe sichtbar machten. Die Speisekarte war nicht besonders hochaufgelöst. „Die Jungen erwiesen sich als fortpflanzungsfähig. Drüben in Kanada haben sie welche eingefangen, werden nächste Woche eingeflogen, sagt der Direktor. Auch verschiedene Robben- und Walarten, die durchs Eis getrennt waren, trafen so aufeinander. Das Leben findet einen Weg.“

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„Ts, ts, ts.“ Bonnie schüttelte den Kopf. „Da erweist sich der Eisschwund als Evolutionsmotor und bringt neue Arten hervor, die in den geänderten Verhältnissen überleben. Wer hätte das gedacht.“

„Die DKP nicht.“

Bonnie lachte auf. „DKP hieß früher etwas anderes. Nicht Deutsche Kreationistenpartei.“

„Hm.“

„Sind nicht so harmlos, wie man meinen könnte. Ihre Schwesterpartei in Grönland, die Kreationistimik Partiiat, hat ja damals zusammen mit der nationalsozialistischen Nutaaq Inuit Partiia erfolgreich verhindert, dass Wissenschaftler Riesenviren aus dem grönländischen Eisschild vermehren und wieder aussetzen, damit diese die Schneealgen befallen, deren große Blüten alljährlich das Meereis dunkel verfärbten und so in der Sonne die Eisschmelze beschleunigten.“ Im dämmrigen Licht leuchteten die biolumineszenten Tattoos in ihrem Gesicht, auf ihren Armen und Händen und auf ihrem Bauch grünlich wie die phosphoreszierenden Zahlen- und Zeigermarkierungen auf den Ziffernblättern mancher alten Uhren. „Die Algenteppiche haben dem Eis den Garaus gemacht.“

„Bin Tierpfleger. Kein Schimmer von Algen und Viren.“ Einen Augenblick irritiert hob er Augen und Kopf und starrte zur Decke. „Oder sind das Tiere?“ Er schüttelte den Kopf. „Egal. Selbst wenn. Kenn’ mich jedenfalls nicht aus damit.“ Um dem Geplapper zu entgehen, stand er auf, trat zu einem der wild blinkenden Spielautomaten an der Wand, hielt die Augen vor den Scanner und wischte zehn Euro auf den Automaten.

„Warnung“, sagte dieser sanft. „Glücksspiel kann süchtig machen.“

Da Malte Shorts trug, war der Unterschied zwischen seinem verbliebenen Bein und der Prothese deutlich zu erkennen, auch wenn sie sich exakt wie ein echtes bewegte. Als Kind hatte er, trotz Verbot, während einer Überschwemmung – Schietwedder, wie sie es nannten – das Haus verlassen, um draußen zu spielen, dabei hatte ihn ein fast drei Meter langer Blauhai angegriffen und sein linkes Bein so sehr zerfleischt, dass es nicht mehr zu retten war. Bonnie fragte sich, ob er deswegen im Zoo arbeitete: Dort hatte er die Oberhand, die Tiere waren ihm ausgeliefert, eingesperrt, hinter Gräben und Glas gesichert. In deren Haut wollte sie nicht stecken.

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Der Spielautomat blinkte und ratterte, die durchhuschenden Bilder verlangsamten sich, ein zwinkerndes rosa Cartoonschweinchen blieb stehen, nun wurde die zweite Reihe langsamer, wieder ein Schweinchen, schließlich die dritte, ein Schornsteinfeger. Malte drückte den eingeblendeten Knopf. Fliegenpilz, vierblättriges Kleeblatt, Schweinchen. Windrad, Kleeblatt, Pfennig. Marienkäfer, Fliegenpilz, Regenbogen. Regenbogen, Hasenpfote, Regenbogen. Nach jeder Runde rasselte es, als ob Münzen in einen Schacht fielen, stattdessen schrumpfte nur der angezeigte Geldbetrag. Als er mit abstoßendem Tröten auf null fiel, schlug Malte halbherzig gegen den Bildschirmrahmen und setzte sich wieder.

„Wo wohl die anderen bleiben.“ Mehr eine Feststellung als eine Frage. „Von Pünktlichkeit haben sie noch nie etwas gehalten.“

„Ich frag’ mal nach.“ Sie nahm ihr Pad in die Hand, wollte darüber wischen, hielt abrupt inne. „Ups“, sagte sie und hielt ihm das Pad hin.

„Für nur 19 Euro können Sie mit toten Angehörigen reden – Chatbots als digitale Nachbildungen Ver-“

Bonnie schüttelte den Kopf. „Das ist Werbung, ich meine die Nachrichten.“

„Jahrhundertflut … Waldbrände … Hitzetote?“

„Nicht der Wetterbericht. Die Lokalmeldungen. Das ist hier vor der Tür.“

„… mit einer Machete auf Passanten ein … laut mehrerer Zeugenvideos Allahu akbar … Angreifer durch mehrere Schüsse gestoppt,… Hintergrund unklar, … psychisch gestört.“ Er zuckte mit der Schulter. „Werden die Schüsse vorhin gewesen sein.“

„Sieh dir die Bilder an.“

„Bilder?“

„Der Opfer auf dem Boden und den Krankenliegen. Medientransparenzgesetz sei Dank deutlich zu erkennen, mach die Augen auf.“

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Er beugte sich vor, griff über den Tisch und zoomte auf ihrem Pad den Ausschnitt groß, wischte ein paar Mal zur Seite, hob die Brauen. „Karin, Fiete, Antje, Wiebke, Hauke“, murmelte er. Dann hörte er auf, zu wischen. „Merle habe ich nicht gesehen, aber sie wird wohl bei Wiebke gewesen sein.“

„Wer zu spät kommt …“

Beide schwiegen einen Augenblick. Die Jorospinne huschte aus dem Lüftungsschlitz und krabbelte unbemerkt auf ihren schwarzen, gelb geringelten langen, dünnen Beinen eilig davon. Die ebenfalls schwarze Zeichnung auf ihrem gut zwei Zentimeter langen Hinterkörper erinnerte an ein missmutig dreinschauendes Alien, das mit hängenden Liedern und hinter dem Rücken verschränkten Armen dastand.

„Letztens habe ich Urlaub an der Nordsee gemacht“, plapperte Bonnie wieder los, „und dabei meine Heimatstadt besucht. Geburtsstadt, eigentlich; als ich vier war, zog meine Mutter mit mir weg. Zum Glück.“

„Hast du denn einen Tauchschein? Ist ja praktisch, heutzutage.“

„Leider nein. Aber sie bieten U-Boot-Ausflüge für Touristen an, die durch die versunkenen Ruinen Bremens führen.“

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