Mannheim. Schwarz, schwarz, schwarz. Und Lichter. Viele Lichter, all die Lichter aus den zahllosen Wohneinheiten. Die Nacht, diese Nacht, sie wirkte endlos. Diese Nacht hatte keinen Anfang und kein Ende.
Er blickte aus dem kleinen Fenster im Schlafzimmer hinaus. Dann ging er hinüber in den winzigen Wohnbereich, setzte sich auf den einzigen Stuhl und rief die aktuellen Kurzmeldungen auf: „Nachrichten, nur Ton.“
„Die Allianz hat auf ihrem regulären Gipfeltreffen ihren Willen bekräftigt, den ideellen und, soweit möglich, auch materiellen Wohlstand ihrer Bevölkerung zu halten. Gleichzeitig würden alle Anstrengungen unternommen, die Auswirkungen auf Menschen und Natur so gering wie möglich zu halten beziehungsweise entsprechende Folgen abzumildern. So würden die Maßnahmen zur Abwehr der mittlerweile fast wöchentlich auftretenden Mikrostürme der Stufe 6 deutlich ausgebaut, unter anderem mit dem Aus- und Neubau von Bunkeranlagen im ländlichen Raum und der Verstärkung der Titan-Glasbarrieren in den Metropolen. Vorrang hätten dabei Agglomerationen ab zehn Millionen Einwohnern, teilte das Bündnis mit.“
„Nachrichten aus.“
Dieser Versuch einer Ablenkung schlug fehl: Er war schon lange nicht mehr so aufgeregt, so unruhig und schlaflos gewesen. Das letzte Mal vor einer Prüfung, vor einer Ewigkeit. „Einladung zum Zeitzeugen-Interview“ stand in dem Brief dieses Forschungsinstituts. „Wohl eher , Einladung zum Zeitzeugen-Verhör’ “, dachte er. Wie das bei Verhören so ist: der grelle Scheinwerfer, direkt in sein Gesicht; seit Tagen kaum geschlafen, bitte, bitte, etwas Schlaf, bitte … Er rief sich abrupt zur Vernunft. Aber er formulierte doch einige Fragen vor, sicherheitshalber, als Vorbereitung sozusagen.
„Herr L., warum hat Ihre Generation eigentlich keine Vorsorge getroffen? War Ihnen das egal? Waren die Urlaubsreisen und die fetten Partys und die dicken Autos wirklich so wichtig? Sie hatten doch auch ein Kind, oder?
Ja, es ist tot.
Sie wissen ja, woran viele Kinder und Erwachsene gestorben sind, oder?
Ja, ich weiß, aber …
Relativieren Sie nicht! Ihre Generation hat versagt!
Bitte, etwas Schlaf, bitte.
Und jetzt jammern Sie! Schämen Sie sich!
Aber, ich …“
Nachdem er die Zeit schlaflos irgendwie herumbekommen hatte, hat er sich viel zu früh auf den Weg gemacht. Die nächste Transporterstation war ausgefallen, so musste er etwas zu Fuß gehen, auf den schier endlosen Wegen aus Stahl und Plastik, eingereiht in den Gang der Passanten, vorbei an den nahe gelegenen dezentralen Einkaufstationen, der Krankenstation. Rechts und links des Wegs ab und an ein Baum, für sein optimales Gedeihen angemessen beleuchtet und gewässert. Über ihm – in weiter Ferne – die Kuppel mit ihrer blauen Anmutung und der künstlichen Sonne.
Helge Bewernitz
Helge Bewernitz ist Jahrgang 1973 und hat nach seinem Studienabschluss in Münster/Westfalen in den Bereichen Öffentlichkeitsarbeit, Compliance und Bildung gearbeitet und hatte „diverse Veröffentlichungen in Anthologien“. An seiner Wahlheimat Berlin schätzt der gebürtige Hamburger das Bunte und Laute ebenso wie ausgedehnte Spaziergänge im Grunewald.
Aus dem Tagebuch des Herrn L.:
März 1993
Ich möchte es schön machen für meinen Sohn. Ich habe einen guten Beruf und kann ihn gut versorgen. Ich achte darauf, dass ich möglichst nachhaltig lebe. Jonas kommt nun bald in die Schule. Welche Welt wird er vorfinden, wenn er erwachsen ist? Es liegt an uns Erwachsenen, diese Welt vorbereitend zu gestalten!
Juli 2005
Jonas ist volljährig! Mein Kleiner :)) Er hat einen guten Schulabschluss hingelegt. Er ist voller Träume. Und es sind gute! Neulich sagte er mir: „Papa, ich mache nun eine Weltreise, und danach helfe ich mit, ein Stück vom Paradies auf die Erde zu holen.“ Dieser Träumer! Gut, dass er ein Träumer ist, wir brauchen noch viel mehr Menschen wie ihn! Noch mehr Traumtänzer. Und dabei weiß er genau zu unterscheiden zwischen denen, die beim Versuch, das Paradies auf Erden zu errichten, nur Leid über die Menschheit gebracht haben, und jenen, die mithelfen wollen, gemeinsam eine etwas bessere Welt zu gestalten.
(…)
Dezember 2025
Weihnachten war noch nie so schön. Jonas ist da. Meine Enkelkinder sind da. Ich bin glücklich. Sogar Sandra ist vorbeigekommen. Die Trennung liegt ja nun auch lange zurück. Die Zeit heilt eben – manchmal – doch.
August 2044
Dieser Sommer, er ist heiß. So heiß. Dieser Sommer ist ein Fluch. Die Menschen sterben wie die Fliegen, besonders Alte und Kranke. Die Bauarbeiten für die Megacity mussten gestoppt werden, Mensch und Maschine versagen bei diesen Temperaturen. Gestern Mittag Rekord, nicht weit von hier: 56 Grad! Und dabei spielt das Wetter verrückt. Auf sengende Hitze folgt sintflutartiger Regen, dann orkanartiger Sturm. Gestern habe ich im Institut übernachtet, der Weg nach Hause wäre zu gefährlich gewesen. (…)
Januar 2053
Ich weiß nicht … etwas stimmt nicht. Alles hat sich verdunkelt. Ich höre nichts mehr von Jonas. Was ist mit ihm? Wo ist er? Was macht er? Geht es ihm gut?
Es ist manchmal schwer, ein Vater zu sein, auch wenn das Kind längst erwachsen ist.
März 2053
Dies ist meine dunkelste Stunde. Ich bin untröstlich. Mein Kind, es ist von mir gegangen. Mir fallen einige Zeilen aus diesem Trakl-Gedicht ein, „Verfall“:
„Indes wie blasser Kinder Todesreigen
Um dunkle Brunnenränder, die verwittern,
Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen.“
Ich möchte ihm nachfolgen. Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr.
April 2053
Ich habe eine Entscheidung getroffen. Ich hatte Jonas dieses Versprechen gegeben: Wenn er geht, dann setze ich sein Werk fort, so gut ich es kann. Das will ich nun tun. Ich bin zwar lange emeritiert, aber ich versuche nun, seine Stelle einzunehmen. Ich bin es ihm schuldig. Und ich werde Rede und Antwort stehen. Ich laufe nicht fort.
Er wusste, wo er zu klingeln hatte: „Forschungsinstitut für Zeitfragen, Sozialhist. Abt.“ stand auf dem – bei Papier hätte man gesagt „vergilbten“ – Display. Er betätigte es. Ein Summer bedeutete ihm, einzutreten. Vor der Rezeption stand Dr. Chu, mit der er auch alle bisherigen Gespräche geführt hatte. Sie war Psychologin und Historikerin. Sie gaben sich die Hand und gingen den Gang hinunter. Dr. Chu setzte sich an eine Seite des langen Tisches und bedeutete ihm, an der anderen Platz zu nehmen. Eine Assistentin verabreichte ihm ein Serum, das seine Erinnerungen – und vor allem auch seine Gefühle – aktivieren sollte. Er hatte sich damit einverstanden erklärt.
„Herr L., vielen Dank, dass Sie unserer abermaligen Einladung gefolgt sind.“
„Dies ist das“ – sie blickte kurz auf den in den Tisch eingelassenen Terminal – „sechste Gespräch in unserem Institut. Wir sprechen heute über Ihre Zeit in den 2000er Jahren, für Sie persönlich eine Zeit voller Umbrüche, aber auch gesellschaftlich, oder?“
Protokoll 6 (Herr L.)
„Geboren wurde ich … mein Gott! Als redete jemand aus dem frühen 19. Jahrhundert, der Wandel ist ungefähr vergleichbar, aber er vollzog sich viel schneller, VIEL schneller, verstehen Sie?! Zu meiner Zeit hatten wir alles, wir waren zufrieden, es gab Automobile – ja, mit Verbrenner – gute Nahrung, Bildung … alles, verstehen Sie? Warum? Mein Gott, was weiß ich? Was weiß ich, warum alles schief gegangen ist. Wir hatten ja auch eigentlich keine Wahl. Wir mussten arbeiten, wir wollten arbeiten. Und wir wollten konsumieren. Aber immer mehr Menschen damals ahnten, dass es so nicht weitergehen konnte. Und – in aller Bescheidenheit – ich gehörte dazu und habe mein Verhalten angepasst und meinen Beitrag geleistet. Nicht ausreichend, sagen Sie? Ja. Ich muss Ihnen Recht geben. Aber wir wollten ein gutes Leben, für uns und unsere Kinder. Was ist daran falsch? Befragen Sie sich: Hätten Sie es denn anders gemacht? HÄTTEN SIE??? NEIN, DAS HÄTTEN SIE NICHT!!“
„Herr L.? Geht es Ihnen gut?“ Er hörte zwar Dr. Chus Stimme, aber er konnte nichts sehen. Eine bekannte Nebenwirkung des Serums, die nach einer gewissen Zeit eigentlich vergehen sollte. „Doch, doch“, antwortete er. „Danke.“ Ganz langsam schienen sich seine Augen zu erholen. „Wir machen Schluss. Dies war das letzte Gespräch an unserem Institut. Vielen Dank.“ Er erhob sich und tastete in Richtung Tür. Dr. Chu machte keinerlei Anstalten, ihm behilflich zu sein. Er fand die Klinke, betätigte sie und ging auf den Gang hinaus.
Er konnte nun wieder ausreichend sehen, um den Ausgang zu finden, und trat auf die Straße hinaus. Das Kunstlicht war schon gedimmt. Ihm war speiübel. Seine fast 100 Lebensjahre machten sich besonders immer dann bemerkbar, wenn er zu lange stehen musste, also setzte er sich in Bewegung. Ihm kam wieder der Gedanke von heute Morgen in den Sinn. „Schluss machen.“ Er steuerte die nächste Transporterstation an und ließ sich auf eine der Panoramaplattformen fahren. Er trat ganz nah an eines der riesigen, kuppelartigen Glaselemente heran. Draußen die Finsternis. „Schwärzer als schwarz.“ Draußen toste unsichtbar und lautlos der Sturm. Wann war er zuletzt in freier Natur gewesen? Vor langer Zeit, kurz bevor die Regierung den Aufenthalt dort draußen dauerhaft verboten hatte.
„Was willst du dann noch hier? Alter Mann. Deine Zeit ist vorüber, oder – nein – sie ist gekommen. Alle, die du geliebt hast, sind tot. Alle, die dich geliebt haben – gab’s da welche? – auch. Zeit zu gehen.“
Er blickte hinaus. Der Sturm tost. Schwarz. Mächtig.
„Ich grüße dich.“
Dann ging er.
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