Mannheim. Beim Zeltfestival Rhein-Neckar stehen im Juni 2023 noch große Namen auf dem Programm: The Cardigans, Bruce Dickinson, Passenger u.a. – den größten Hit hat aber Tom Odell am 20. Juni im Gepäck: Seine allein auf Spotify fast 2,5 Milliarden Mal gehörte erste Single „Another Love“ (2012), eines der 35 meistgestreamten Lieder aller Zeiten. Dass der 33-jährige Singer-Songwriter und Pianist aus England noch wesentlich mehr zu bieten hat, zeigt sich im Interview mit dieser Redaktion.
Mister Odell, Ihre Musik bietet auf der Bühne alle Möglichkeiten vom Solo-Auftritt am Piano bis zur Orchester- oder Chorbegleitung. Was erwartet die Fans im Palastzelt?
Tom Odell: Ich spiele mit großer Band: Wir sind zu siebt auf der Bühne, inklusive Bläsern. Das ist aufregend und ergibt wirklich großen Sound.
Ihre aktuelle Platte „Black Friday“ beeindruckt: Sie klingt fragil und opulent, melancholisch und aufmunternd, roh und ausgefeilt. Wie kam es zur Balance der Gegensätze?
Odell: Ursprünglich entstanden die Aufnahmen auf ruhige, bescheidene Art: In meinem Londoner Studio mit der Gitarre auf der Couch. Das hätte auch in meinem Wohnzimmer sein können. Ich wollte, dass sich die Songs so anhören wie eine Unterhaltung; fokussiert auf Stimme, Worte und die Erzählungen. Aber man weiß nie, wohin sich ein Album entwickelt. Ich möchte diesen Prozess auch gar nicht steuern, weil ihn das ruinieren könnte. So passierte es, dass ein deutscher Studioassistent namens Vincent Ott dazu kam. Er schlug einige Arrangements vor, auch mit Streichern – das ergab viel Spaß und Spannung, wie es mit dem Rest der Musik interagiert.
Sehr schön ist die relativ schlichte Nummer „Loving You Will Be The Death Of Me“ – Dich zu lieben, wird mein Tod sein. Da fragt man sich, wie gut Ihre junge Ehe läuft...
Odell (lacht): Sehr gut, keine Sorge. Eigentlich ist das Lied aber inspiriert von einem Buch, das ich – wie so oft – in der Badewanne gelesen habe: Es handelt vom Einfluss der biblischen Geschichte von Hiob auf die Gemälde William Blakes, etwas beeinflusst von C. G. Jung. Zuletzt habe ich viel über das Christentum gelesen, generell interessiere ich mich sehr für Religion. Dass Liebe tödlich sein kann – da geht es um den Tod des Egos. Das scheint mir ein allgemeines Thema zu sein: Wir versuchen etwas zu erreichen, das unser Bewusstsein für unser Ich vernichten kann.

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Das klingt abstrakt. Hätten Sie ein Beispiel?
Odell: Das kann über Hedonismus, Sport, Musik oder Liebe passieren. Wir fühlen uns am freisten, wenn wir den denkenden Teil in uns abschalten – das Ego. Darum geht es in dem Lied, aber auch um den Dualismus im Christentum – und in einer katastrophalen Beziehung.
Gegensätze kennzeichnen Ihre Musik, auch Ihre Karriere. Denn auch ein milliardenfach geklickter erster Hit wie „Another Love“ hat zwei Seiten: Einerseits ist es fantastisch, dass ihn so viele Leute schon so lange lieben. Andererseits identifizieren Sie viele Leute trotz sechs starker Alben nur damit – und Sie sind dazu verdammt, ihn Ihr Leben lang zu singen. Wie sehen Sie das?

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Odell: Ich verstehe, was Sie meinen. Aber wenn ich versuche, mir eine Welt ohne diesen Song vorzustellen: Wäre sie besser? Wäre es für meine Karriere besser, diesen Song nicht zu haben? Aber obwohl ich dazu neige, mich selbst bei Glücksfällen auf die negativen Facetten zu konzentrieren, fällt es mir bei „Another Love“ schwer. Allein, weil meine anderen Songs dadurch ein so großes Publikum bekommen haben, wie sie es ohne diesen Hit vielleicht nie geschafft hätten. Außerdem bin ich sehr stolz darauf: Ich haben diesen Song ganz allein geschrieben, als ich 19 war. Und ich erinnere mich noch genau, wie ich jedes einzelne Wort geschrieben habe, jeden Teil der Musik, und wie es sich angefühlt hat, als ich in das erste Mal gesungen habe. Ich denke, es ist ein großartiger Song (lacht). Wahrscheinlich würde es sich anders anfühlen, wenn ich so einen Erfolg mit etwas erreicht hätte, auf dass ich nicht stolz sein könnte. Aber ich genieße es immer noch sehr, „Another Love“ zu singen – und kann mir nicht vorstellen, dass sich das ändert.
Er bedeutet auch vielen Menschen viel, wird mit Betroffenen des Ukraine-Kriegs und den Demonstrantinnen im Iran assoziiert.
Odell: Es bedeutet mir tatsächlich viel, zu beobachten, womit der Song in Verbindung gebracht wird, wofür er steht. Das macht mich sehr demütig.
Darauf folgt für Sie eine sehr spezielle Pop-Karriere: Sie können in großen Arenen spielen, werden aber auch bei Indie-Clubs und -Festivals als Künstler anerkannt – wo man über Ed Sheehan, Taylor Swift oder James Blunt höchstens die Nase rümpft.
Odell: In meinem Metier sollte man nicht darüber räsonieren, welchen Stellenwert man hat und wer man ist. Dann fesselt und verstrickt man sich nur in Widersprüchen. Ich habe in meinem Job gelernt, dass ich nur meine Arbeit kontrollieren kann – was ich aufnehme, wie ich live auftrete. Alles Andere liegt außerhalb meiner Kontrolle: Wie, warum und wie viele Leute meine Songs mögen. Deshalb hat es mich kein bisschen gestört, als wir kurze weniger Tickets verkauft haben. Denn wir sind immer wieder aufgetaucht und spielen weiter live. Jetzt wieder in immer größeren Locations. Das ist ein Segen.
Es gibt wenig Duette von Ihnen. Aber 2018 haben Sie mit Alice Merton „Half As Good As You“ aufgenommen. Sie hat die Popakademie in Mannheim absolviert, Sie waren an einer ähnlichen Institution in Brighton studiert. Haben Sie verglichen?
Odell: Nein. In Brighton war es etwas locker. Alice hat einen tollen Arbeitsethos. Da konnte ich mir zu der Zeit etwas abschauen. Sie ist großartig und hat einen tollen Job bei diesem Lied gemacht. Sie hat diese Platte wirklich zum Leben erweckt. Sie ist ein echter Star.
2021 haben Sie auf dem Album „Monsters“ psychische Probleme thematisiert. Wie hat sich das ausgewirkt?
Odell: Das Album war vom Kampf mit meinem eigenen Kopf inspiriert. Ich hatte gelernt, dass diese Kämpfe nicht an mir liegen, sondern dass es Namen dafür gibt. Vorher war es och nicht üblich, über mentale Probleme zu sprechen, als Mann oder Junge in meiner Generation. Darüber sprach man nicht – was irgendwie machiavellistisch ist. Das fällt mir manchmal immer noch schwer. Auch wenn mein Leben glamourös erscheinen mag. Ich muss immer noch daran arbeiten, aus diesen traurigen, schweren Phasen herauszukommen. Daran ist nichts Glamouröses. Aber dieses Album, über diese Themen zu singen, hat mir geholfen. Und wenn andere Menschen es hören, spüren Sie, dass sie mit diesen Problemen nicht allein sind. Das ist das Großartige an Kunst, jeder Form von Kunst: Sie hilft Leiden und Einsamkeit zu zerstören. Weil sie zeigt: Niemand ist allein! Deshalb ist es wichtig, die Wahrheit auszusprechen. Weil es kraftvoll ist.
Hilft es Ihnen, wenn Sie wissen, dass Ihre Musik anderen Menschen hilft?
Odell: Ich würde gern Ja sagen. Aber ich weiß es tatsächlich nicht (lacht). Aber es ist ein wundervolles Gefühl, dass mein Job eine Verbindung zu anderen Menschen ermöglicht, wenn sie meine Musik hören. Das gibt meinem Leben Bedeutung. Aber ich bin nicht sicher, dass es Depressionen heilt. Die ehrliche Antwort ist: Ich muss mein Verhältnis zu meiner Arbeit regulieren. Ich kann schon ziemlich besessen davon sein. Ich habe mich so schon ziemlich fertig gemacht, wenn ich zu viel gearbeitet habe. Das hat etwas von einer Sucht. Ich muss dafür sorgen, dass es nicht ungesund wird, um ruhig und in der Balance zu bleiben..
Sie haben eine Weile in Neuseeland gelebt. Wenn Sie sichEnglands Brexit, den Rechtsruck in Europa und unsere Gesellschaften anschauen, die viele krank machen – möchten Sie nicht Ihre Sachen, Ihre Frau und einen Flügel einpacken und wieder nach Mittelerde auswandern?
Odell (lacht): Tatsächlich saßen meine Frau Georgie und ich dort vor anderthalb Jahren am Strand und haben genau davon fantasiert: Ein ruhiges Leben in Neuseeland zu führen. Das ist eine verlockende Vorstellung für mich. Die Zeiten sind furchterregend, nicht nur in Europa. Es gibt eine Menge Spaltung und Wut. Angstfrei auf die Welt und in die Zukunft zu schauen, fällt nicht leicht. Ich glaube, wenn es etwas Tröstliches für mich gibt: Ich bin stark an Geschichte interessiert und habe zuletzt viel Tolstoi gelesen. Daraus ergibt sich eine Sicht, die gar nicht pessimistisch oder nihilistisch klingen soll: Jede Zeit fühlt sich furchterregend, schrecklich und tragisch an, für die Menschen, die in ihr leben. Wie die Kriege jetzt. Es ist vermutlich keine Erleichterung für Irgendjemanden: Aber wir sind nicht die Ersten, die solche Zeiten erleben. Mit dem Alter wird mir immer klarer, dass Kunst und die Rolle von Künstlern deshalb lebenswichtig ist. Wenn die Welt sich am Schlimmsten anfühlt, habe ich das größte Bedürfnis nach Kunst.
Tom Odell spielt am Donnerstag, 20. Juni, beim Zeltfestival in Mannheim. Der Abend beginnt um 18.30 Uhr mit der Mannheimer Sängerin Loi im Vorprogramm. Abendkasse: 65 Euro. Mehr: zeltfestivalrheinneckar.de
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