Hintergrund

In der Netflix-Doku über Haftbefehl spielt Mannheim eine Schlüsselrolle

Der Konzertabbruch 2022 im Hafen69 in Mannheim machte seinem Umfeld klar, dass die Kokainsucht des Offenbacher Rappers Haftbefehl bedrohliche Ausmaße annimmt.

Von 
Jörg-Peter Klotz
Lesedauer: 
Die Netflix-Doku „Babo - Die Haftbefehl-Story“ zeigt schonungslos den Abgrund hinter der Star-Fassade im Rampenlicht. © Netflix

Mannheim. Auf Netflix ist gerade die so hochklassige wie erschütternde Dokumentation „Babo – Die Haftbefehl Story“ über den Offenbacher Rapper das meistgesehene Werk in Deutschland – und Mannheim spielt dabei eine Schlüsselrolle. Denn die Karriere des intuitiv stilprägenden Künstlers Haftbefehl strotzt nicht nur vor revolutionärer Sprachgewalt und kommerziellen Erfolgen. Das Leben des 1985 geborenen Aykut Anhan ist auch geprägt von meist drogenbedingten Abstürzen, einhergehend mit Persönlichkeitsveränderungen, gegen die Dr. Jekyll und Mr. Hyde wie gleichgeschaltete Klone wirken. Und das Ausmaß nahm mit dem Erfolg dramatisch zu. Der schlagzeilenträchtige Konzertabbruch am 7. August 2022 im Mannheimer Club Hafen69 machte aber seinem familiären und geschäftlichen Umfeld klar: „Es ist so lange witzig, bis es nicht mehr witzig ist.“

Schnitt. Blick auf die Quadratestadt. In großen Blockbuchstaben ist „MANNHEIM 2022“ darüber geblendet. „Mannheim“, erinnert sich Haftbefehls jüngerer Bruder Cem Anhan mit finsterem Blick, „das war der erste Tag, wo es an die Öffentlichkeit ging.“ Er selbst hatte in dem Open-Air-Club das Vorprogramm bestritten und die Wartezeit überbrückt. „Ich bin von meinem Auftritt ´runtergekommen, und er kam da schon an und war …“ – der Bruder atmet tief durch „… so kannte ich ihn auf jeden Fall nicht.“ Es folgen bestürzende Bilder von dem kurzen Auftritt, die damals über Social Media viral gingen.

Ich habe meinen Bruder nicht wiedererkannt
Cem Anhan Rapper und Haftbefehls Bruder über den Auftritt in Mannheim

Haftbefehl torkelt auf die Bühne, kann sich kaum auf den Beinen halten. Er setzt zu einem Song an, muss sich aufstützen – und geht schwankend ab. „Dann gab es eine harte, harte Fetzerei zwischen ihm und mir“, erinnert sich der Bruder. „Ich habe meinen Bruder nicht wiedererkannt.“ Konfrontiert mit den Bildern in der Doku sagt Haftbefehl dazu nur: „Das sah nicht gut aus, auf jeden Fall.“

Schnitt. Blitzlichtartig zeigt die Regie das folgende Schlagzeilengewitter. Dann kommt Neffi Temur zu Wort, Teil der Chefetage des Universal-Music-Labels Urban Records. Zu der Zeit des Mannheimer Konzertabbruchs sei man dabei gewesen, das bis jetzt letzte Haftbefehl-Album „Mainpark Baby“ zu veröffentlichen. „Er hatte eine Tour vor der Brust. Und wir haben dann alles abgeblasen.“

Mannheim habe ihn zutiefst traurig gemacht, sagt der Musikmanager. „Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass ich mich nicht als Universal mit Aykut treffen, mit ihm sprechen und herausfinden muss, wie es ihm geht, sondern als Neffi“, erinnert sich der Manager Neffi Temur. Dann sei er in das Hotel gefahren, in dem sich Haftbefehl mehrere Tage eingeigelt habe. Kommuniziert hätten sie über drei Stockwerke via SMS. „Es war absurd.“

Vom Bruder entmündigt und in eine Entzugsklinik gesteckt

Seine Kernaussage damals: „Ich geh hier nicht weg, bevor du nicht rauskommst und wir in die Klinik fahren.“ Haftbefehl berichtet danach vom Entzug: „Ich habe acht Tage geschlafen. Acht Tage! Ich war fix und fertig!“ Danach habe er sich wie ein Geist gefühlt und die Therapeutin habe ihm gesagt: „Du wirst sterben.“ Ohne Erfolg. „Ich bin abgehauen. Nacht-und-Nebel-Aktion!“ Er hätte deshalb ein schlechtes Gewissen – „wenn ich es in der Hand hätte“. Aber das war damals nicht der Fall. Später trickst ihn sein jüngerer Bruder aus, um ihn zu entmündigen und in eine Entzugsklinik in die Türkei zu stecken. „Ich hab mit 13 angefangen, Kokain zu nehmen“, bekennt Haftbefehl in der Doku. „Ich wusste gar nicht, was das ist.“ Er sei immer mehr hineingezogen worden. „Umso mehr Geld man hat, umso mehr kokst man“, sagt er – als sei das ein Naturgesetz.

Mannheimer Veranstalter erinnert sich an einvernehmliche Lösung

Für das Publikum in Mannheim ging das Ganze bis auf das entgangene Konzert relativ glimpflich aus: „Alle haben ihr Geld zurückerhalten“, sagt Veranstalter Robin Ebinger von Cosmopop auf Anfrage, der das Event am Hafen 49 mit dem dortigen Betreiber, der Loft GmbH, organisiert hat. Ob sie dabei selbst auf Kosten sitzengeblieben sind? „Da möchte ich nicht ins Detail gehen. Es wurde alles mit dem Management und ihm einvernehmlich gelöst“, erklärt Ebinger, der vor allem als einer der Macher der Time Warp bekannt ist. Er selbst habe damals von dem Vorfall wenig mitbekommen.

Mehr zum Thema

Neuer Netflix-Film

Schonungslose Doku über Haftbefehl - «Ich war schon tot»

Veröffentlicht
Von
Christian Schultz
Mehr erfahren
Netflix-Film in Wochencharts

Doku über Rapper Haftbefehl wird zum Streaming-Hit

Veröffentlicht
Von
dpa
Mehr erfahren

Die Dokumentation der Regisseure Juan Moreno, der „Spiegel“-Autor, der die Relotius-Affäre aufgedeckt hat, und Sinan Sevinç erfordert starke Nerven. Die jüngsten Bilder des schwer gezeichneten Haftbefehl, aufgedunsen und mit vom Kokain fast zerfressener Nase sind harte Kost. Die Debatte, ob dieser Film Jugendlichen ein falsches Vorbild vorführt, ist überflüssig. Bessere Anti-Drogenarbeit als diese 90 Minuten kann es kaum geben. Man müsste ihn gezielt in Schulen zeigen – vor allem an Brennpunkten, wo Aufsteiger wie Haftbefehl Helden sind.

Hier wird nichts verherrlicht – stattdessen schonungslos offen gezeigt, was für Auswirkungen dieser Lebensstil vor allem auf eine Familie hat. Haftbefehls Ehefrau spielt eine zentrale Rolle und lässt beeindruckend authentisch in ihr Seelenleben blicken. Ihr Mann ist genauso offen, wie man es aus seinen Songs kennt. Das wirkt mitunter brutal.

Der Rapper Haftbefehl kommt zur Filmpremiere des Filmes „Dogs of Berlin“ ins Kino International in Berlin. © Annette Riedl/dpa

Hier wird also kein Popstar-Leben idealisiert, Haftbefehls teilweise geniale Musik spielt kaum eine Rolle. Härter ausgeleuchtet wurde der Abgrund hinter der Star-Fassade selten. Auch mit teilweise anrührenden Szenen, vor allem als Haftbefehl versunken in ein Bild seiner Kinder Reinhard Meys Lied „In meinem Garten“ singt – voller Verehrung für den Text des Liedermachers, dessen Reimkunst und Flow ihn auch bei harten Gangster-Rappern extrem populär macht. Das katapultierte das Lied jetzt sogar in die Charts.

Erschütterndes Beispiel für die desaströse deutsche Integrationspolitik

Man kann diesen Film aber auch politisch sehen. Als Lehrbeispiel für die desaströse Integrationspolitik einer Republik, die Jahrzehnte lang die Realität ignoriert hat. Die Staatsdoktrin „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ hat dazu geführt, dass Familien allein gelassen wurden. Welche Traumata dabei Kinder wie Haftbefehl und seine Brüder erleben, die dann teilweise die Fehler ihrer Väter wiederholen – das belegt dieser von Elyas M‘Barek und Pacco-Luca Nitsche produzierte Dokumentarfilm.

Ressortleitung Stv. Kulturchef

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen

VG WORT Zählmarke