Genau so geht Oper: Mit frenetischem Applaus und Bravorufen über viele Minuten hinweg feierte das Weikersheimer Publikum Puccinis „La Bohème“ im Schlosshof. Eine intelligente Inszenierung, ein feinsinniges Orchester, ein extrem spielfreudiges Ensemble: das macht trotz des Todesfalls am Schluss einfach Spaß.
Zitat vom Zitat vom Zitat: Regisseur Patrick Bialdyga wirft sein Publikum hinein in ein Pop Art-Setting. „She“, „We“, „Love“ – das erste Bühnenbild arbeitet mit den plakativen Ausdrücken des Signalkünstlers Robert Indiana. Hier deutet sich auch das Spiel des Regisseurs mit der dreiteiligen Emblematik an: Oben und hinten im Bild das Motto (je nachdem auch „Dance“ oder „Soul“), die Handlung darunter wird mit kleineren Bildern (Schlüssel, Kerzen, Altar, eine Mütze etc.) durchwoben. Das Epigramm, die Lösung der Bilderrätsel, soll und muss allerdings der Zuhörer und -schauer selber finden.
Und das ist schwer, denn im heutigen Beziehungswirrwarr gibt es eigentlich keine funktionierenden (Überlebens-) Strategien. Krachende Liebesgeschichten und ebenso plötzliche Liebesabbrüche per Handy, man wird hineingeworfen und muss sie aushalten. „Leben eben“, wie Bialdyga in seinem überdimensionalen Buch, das den Bühnenhintergrund bildet, wissen lässt.
Vier große Roman-Bilder, zwei (bei Bialdyga sogar drei) Paare. Künstler, Hungerleider, treffen aufeinander und dann ergibt sich einiges einfach so, als Mimì bei Rodolfo auf der Suche nach einem Feuer ist. Die Zuneigung entfacht sich ebenfalls und das Drama nimmt seinen Lauf, bis Mimì am Ende stirbt. Offiziell an Tuberkulose, doch der alte Begriff Schwindsucht scheint für die Inszenierung angemessener: Sie verschwindet als Schatten vom Plan und Rodolfo verspürt tiefe Trauer. Aber er plant bereits ein nächstes „Buch“. Herzschmerz dafür hat er ja genug aufgesogen, vor allem aus dem gebrochenen Herzen seiner Freundin.
Klingt frustrierend? Ist es auch. Die Oper ist nichts für Romantik-Puristen. Wer etwas nüchterner auf Beziehungsverläufe blicken kann, bekommt in Weikersheim aber ein geniales Paket voller (auch witziger) Einfälle. Und Musiker, die über den Bühnenrand hinaus spielen.
Das Duo Rodolfo/Mimì funktioniert in den Duetten wunderbar, lässt man Andrea Cueva Molnar aber von der Leine, haut sie ihren Partner einfach weg. Nie nervig oder aufdringlich zeigt die junge Sopranistin, was sie kann: erste Bravorufe in der Szene.
Überhaupt: Diese Inszenierung in Italien – das Publikum wäre schon während der Aufführung in lautes Entzücken verfallen. In Deutschland ist man da zurückhaltender, doch der donnernde, fast tobende Schlussapplaus zeigt: hier ist etwas ganz Besonderes abgeliefert worden.
Rund 80 Akteure auf der Bühne
Zweites Paar: Musetta, die „Bitch“ mit Herz, und der emotionale Maler Marcello. Bariton und Sopran verbinden sich zu einem „Traumpaar“, bei dem die Fetzen fliegen. Im Café Momus (bei Bialdyga ein atmosphärischer Ambient-Musikclub mit thronendem DJ) lässt der Regisseur die Puppen tanzen. Kinderchor (samt bezaubernden menschlichen Discokugeln) und Projektchor wurden absolut sehenswert choreografiert (Bärbel Stenzenberger). Rund 80 Spieler auf der breiten, offenen Bühne, das hat enorme Strahlkraft und ist über kleine Binnenhandlungen noch interessanter, als das Bild mit seinem riesigen Turntable ohnehin schon ist (Bühnenbild: Norman Heinrich).
Deutlich aufgewertet hat die Regie die artigen Rollen von Schaunard und Colline zum sympathischen Männerpärchen. Dieses ist das einzige, das harmonisch zu funktionieren scheint – wenn man eine Hochzeit als Beleg akzeptieren mag.
Puccini war, obwohl nicht arm, selbst eine Art Bohemien mit einer Liebe zu schnellen Autos (was man um 1900 eben für schnell hielt). Er wusste also, was er schrieb. In „La Bohème“ hat er Text und Musik förmlich verschmolzen und so gleichzeitig auch Raum geschaffen für Szenisches. In der Weikersheimer Inszenierung werden diese Spielräume ausgereizt, in den Bild-Anläufen sogar von der Regie als Erweiterung der Handlung gesetzt. Logisch, erfrischend, allzeit überraschend.
Einen Freischuss muss man Bialdyga bei seiner insgesamt gewaltigen Arbeit zubilligen: Die „Lesung“ im dritten Bild überreizt er nämlich. Das Dropping, das man schon nach der ersten Romanseite verstanden hat, wird zum langen Tröpfeln. Da hätte er einfach schneller zum Punkt kommen müssen.
Ein Blick auf die große musikalische Seite: In der stets stimmigen Gesamtleitung ist er der ruhende, freundliche Pol – Dirigent Fausto Nardi. Er führt das „Jove Orquestra Nacional de Catalunya“ mit sanfter und doch bestimmter Hand. Das wird dann besonders wichtig, wenn – etwa im ersten Männerquartett – die Solisten vor Begeisterung davonzugaloppieren drohen. Nardi fängt sie wieder ein.
Nardi hält alles zusammen
Weil Puccini aus dramatischen Gründen die tiefen Register immer wieder ausblendet (und sie dann wie aus dem Nichts enggeführt über das Publikum hereinbrechen lässt) muss Nardi seine Streicher quasi einzeln im Griff haben. Würde hier ein einziger Musiker nicht auf Zack sein, bräche die feine lyrische Struktur zusammen. Dieses wichtige Zusammenhalten macht der Dirigent so „human“, dass es eine Freude ist, ihm dabei zuzusehen. Wie er die jungen Musiker führt und wachsen lässt: Bravo!
Es gäbe noch viel zu erzählen, denn die heurige Junge Oper der Jeunesses Musicales ist wirklich randvoll. Und wo sie überquillt, opulent wird oder die Solisten über stützende Bilder ganz nach vorne featured, ist sie ganz besonders hinreißend.
Eins noch, weil es wichtig ist: Die Inszenierung zeigt auch, wo Kommunikationsstrukturen hinlaufen. Mobiltelefone (in der Oper selbst wird immer wieder schnell getippt; Opernbesucher checken wie selbstverständlich in Umbaupausen ihre Mails), sie durchdringen das Leben. „Icons“, „Emojis“ und „Memes“ machen etwas aus heutigen Beziehungen. Körperlichkeit drückt sich zumindest teilweise in Bildern aus und nicht in Umarmung.
Fehlt deshalb Tiefe? Wir glauben das nicht. Das große Drama bleibt, vielleicht wird es kürzer, dichter? Anders ist es in jedem Fall. Wer irgendwie ahnen will, wie (junge?) Menschen heute ticken, sollte die Weikersheimer „La Bohème“ nicht verpassen – sie ist zeitlos und zeitgemäß zugleich.
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