Heidelberg. Am Freitag beginnt das Musikfestival des Heidelberger Frühling. Im Zentrum steht Brahms – ein Gespräch mit dem Intendanten.
Herr Schmidt, warum der alte Mann mit dem langen Bart?
Thorsten Schmidt: Ganz einfach: Wir lieben seine Musik. Dazu gibt es bei ihm noch einen Heidelbergbezug. Wir nutzen hier die Chance, die nur ein Festival hat: nämlich über mehrere Wochen dem Publikum einen Werkaspekt ganz umfassend nahezubringen. Eine Tiefenbohrung.
Tiefenbohrung ohne große Werke?
Schmidt: Tiefenbohrung heißt ja nicht Breite, sondern Konzentration. Das gesamte Kammermusikschaffen und Solo-Klavierwerk hören zu können, ist einzigartig. Und das mit diesen Künstlerinnen und Künstlern. Als Programmverantwortlicher müssen Sie Entscheidungen fällen. Und die war in diesem Fall einfach. Der Heidelberger Frühling steht für Exzellenz. Unsere Räume während der Stadthallensanierung sind für große Besetzungen nicht geeignet. Daher eine passgenaue Tiefenbohrung ohne die Sinfonien und Konzerte.
Thorsten Schmidt und der Heidelberger Frühling
- Intendant: Thorsten Schmidt ist Gründer des 1997 erstmals ausgetragenen Heidelberger Frühling. 1962 in Oldenburg geboren und Volkswirt, übernahm der ehemalige Orchesterdirektor des Philharmonischen Orchesters Heidelberg 2000 den Kulturservice Heidelbergs. Als junger Mann hatte er einen Traum: Sänger werden.
- Musikfestival: Das Heidelberger Frühling Musikfestival ist das größte Klassikfestival Baden-Württembergs. Es findet in diesem Jahr zum 28. Mal und unter dem Motto „Brahms!“ vom 15. März bis 13. April statt. Es ist der zweite Jahrgang mit Igor Levit als Co-Künstlerischer Leiter an der Seite von Intendant Thorsten Schmidt. Über vier Wochen hinweg wird das gesamte Kammermusikwerk sowie das Soloklavierwerk von Brahms zu hören sein.
- Info: heidelberger-frühling.de
Sie sind ja ein Fan gesellschaftlicher Relevanz und wollen diskursiv, philosophisch oder gar politisch agieren. Was sagt Brahms? Dass früher alles besser war? Oder dass mit ihm alles besser wird (lacht)?
Schmidt: Ich nehme den Ball auf. Mit Brahms ist alles besser. Seine Musik berührt uns zutiefst, sie lässt uns nie gleichgültig. Auch wenn ich gestehe, dass ich es wichtig finde, Haltung zu beziehen, gerade auch als Kulturinstitution, gibt es Zeiten, in denen ein anderes Aufgabenfeld von Festivals in den Vordergrund rückt. Als wir geplant haben, standen wir unter dem Eindruck der überwundenen Pandemie und des Angriffs auf die Ukraine. Wir waren angestrengt, erschüttert, voller Sorgen. So haben wir das gemeinsame Musikerleben, die Distanz zum Alltag, den sozialen Ort auf Zeit über die Konzentration auf die Musik ins Zentrum unserer Arbeit gestellt. Das alles war vor dem Angriff der Hamas auf Israel. Was wir seither an Diskursunkultur erleben, würde zu einem sehr anderen Programm führen.
Also dann frei Nietzsche: Wir haben den Brahms, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen?
Schmidt: Vielleicht. Wir alle brauchen etwas, was uns in herausfordernden Zeiten am Leben hält.
Ist das eine Art Flucht aus der Wirklichkeit? Ist uns dieser Aspekt von Kunst auch etwas abhandengekommen, weil es uns zu gut ging? Ihre Sehnsucht nach den geordneten Terzen und Sexten von Brahms könnte darauf hindeuten…
Schmidt: … ich würde es nicht als Flucht aus der Wirklichkeit bezeichnen. Das wäre ja mangelnde Bereitschaft, sich auf Realität einzulassen. Für mich ist es eher die Besinnung auf eine andere Sprache, Emotionalität, eine Seite des Menschlichen, die nicht konsumiert, sondern etwas an sich heranlässt. Musik bringt in uns doch etwas Anderes zum Klingen als die neuesten Nachrichten auf irgendeinem Portal. Ganz ehrlich, es gibt Stellen bei Brahms, die mich atemlos machen, mich einen Augenblick lang alles vergessen lassen. Keine Flucht aus der Wirklichkeit, sondern Mittel, um Wirklichkeit zu bewältigen.
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Verraten Sie eine Stelle?
Schmidt: Nehmen wir die 1. Klavier-Sonate C-Dur. Da hat mich vor Jahrzehnten das Andante in der Interpretation von Swjatoslaw Richter sehr berührt. Das ist noch immer so. Ich freue mich unglaublich auf den fantastischen Tschaikowsky-Preisträger Alexandre Kantorow, der sie bei uns spielt. Oder Violinsonaten. Ich habe sie mit 16 auf den billigsten Plätzen auf der Bühne hinter dem Flügel durch eine 15-jährige Geigerin kennengelernt. Anne-Sophie Mutter. Seither sind sie meine Lebensbegleiterinnen. Meine Lieblingsaufnahme ist die mit Renaud Capuçon. Deshalb spielt Renaud auch bei uns, mit Igor Levit. Das Konzert ist ausverkauft.
Apropos: Ist der Heidelberger Frühling eigentlich ein soziales Festival, das die Menschen verschiedener Schichten zusammenbringt?
Schmidt: Das ist unser Ziel. Durch eine faire Preisstruktur, Familientickets und Einbindung des Heidelberg-Passes. Studierende zahlen nur acht Euro an der Abendkasse. Und dann haben wir ja „re:start“ und das „Brahms.LAB“. „re:start“ ermöglicht Konzerte niederschwellig kostenlos. Wir gehen in die Stadtteile zu den Leuten. Das funktioniert sehr gut. Und beim „Brahms.LAB“ versuchen wir ebenfalls etwa durch die Auswahl der Orte der Vorstellung eines elitären Festivals entgegenzutreten.
Wen erreichen Sie in der pluralistischen Gesellschaft?
Schmidt: Wir erreichen all die, die bereit sind unsere Einladung anzunehmen und die, die interessiert sind an dem, was wir anbieten.
Die Antwort hätte ich selbst geben können. Wie ich Sie kenne, machen Sie doch sicherlich ein hochprofessionelles Audience Development…
Schmidt: (lacht) Verzeihung, aber ich bin mittlerweile leicht irritiert darüber, was ein Konzert alles leisten soll. Es begann mit dem Lamento über das alternde Publikum, wir sprechen heute mehr über Diversität als über Qualität, und auch alle sozialen Schichten sollen mit einbezogen werden. Diese Themen sind immens wichtig. Ich bin 1997 mit dem Ziel gestartet, Eintrittsbarrieren zu senken. Damit waren wir erfolgreich. Die Menschen haben sich überzeugen lassen und den „Frühling“ zu ihrem Festival gemacht. Eigentlich ist das Heidelberger Frühling Musikfestival eine Bürgerinitiative …
… von welchen Menschen?
Schmidt: Die Gesellschaft hat sich verändert, neue und wichtige Themen stehen im Zentrum. Wir wollen diese Schwingungen wahrnehmen und dramaturgisch bearbeiten, um Konzepte zu entwickeln, die eine Kunstform, die zumeist eine Botschaft einer vergangenen Zeit in sich trägt, zu transformieren. Aber es wäre vermessen zu behaupten, dass wir für alle Menschen relevant sind. Junge Menschen müssen nicht in Scharen Konzertsäle füllen, sie sind eingeladen, aber es ist in Ordnung, wenn sie woanders feiern wollen und erst mit 45 oder 50 kommen, wenn die Familiensituation es erlaubt. Menschen in sozial prekären Lebenssituationen haben oft andere Sorgen. Aber wenn sie Abstand brauchen vom rauen Leben, finden sie bei uns Raum.
Sie kennen das Publikum genau?
Schmidt: Unser Publikum ist doch der Grund und Ansporn, warum wir das alles tun! Dies unter Audience Development zu subsumieren, ist für die interne Arbeit richtig. Für die Kommunikation mit dem Publikum nicht. Die Menschen wollen nicht belehrt, sondern inspiriert werden. Wir müssen, was um uns herum geschieht, ernst nehmen. Wir sind bunter geworden. Und diese Bereicherung zeigt sich auch bei den Künstlerinnen und Künstlern und in ihren Programmen. Aber wir müssen auch den Mut haben zu sagen, dass wir im Kern mit einer sehr europäisch geprägten Kunstform arbeiten. Sie ist, was sie ist. Dafür lieben wir diese Musik. Aber wir können uns heute inspirieren durch Musik, die wir erst genauer kennenlernen müssen. Und das tun wir sensibel und fragend.
Jetzt klingen Sie ein bisschen wie der Christ, der sagt: Wir sind nun mal mit dem Christentum sozialisiert. Ist das jetzt ein Bekenntnis für die Werte und Kultur, die wir uns seit der Aufklärung in Europa aufgebaut haben und die wir, ja, weiter kultivieren sollten?
Schmidt: Das hören Sie? Eigentlich sage ich das Gegenteil. Wir haben eine Herkunft. Wir haben Narrative. Narrative sind abhängig von den Zeitläuften. Gesellschaften haben sich über die Jahrhunderte immer wieder neu formiert durch Einflüsse, die durch Menschen mitgebracht wurden. Erfolgreich waren Gesellschaften, die sich geöffnet haben. Sie hinterfragen Überkommenes und entwickeln gemeinsam Neues. Genau das ist, was ich meinte. Sich öffnen, ein gemeinsames Narrativ entstehen lassen. Navid Kermani hat die Forderung nach der Definition eines neuen „Wir“ vor Jahren aufgestellt.
Sie sagen immerhin: „Wir müssen auch den Mut haben zu sagen, dass wir im Kern mit einer sehr europäisch geprägten Kunstform arbeiten. Sie ist, was sie ist. Dafür lieben wir diese Musik.“
Schmidt: Natürlich! Wir sind ein Musikfestival, das sich im Kern mit klassischer Musik beschäftig. Und das neugierig ist, sich selbst in der Auseinandersetzung mit diesem Kern immer wieder neu zu erfinden. Das ist ein erheblicher Teil unserer Identität.
Ich verstehe Sie schon, interpretiere aber – vielleicht ja zu viel. Aber zuletzt: Was müssen wir nun tun mit dieser zerrissenen Gesellschaft in einer Welt voller Krieg und Hass? Augen zu und Durch-Brahmsen?
Schmidt: Niemals Augen zu und sich verschließen. Aber Kraft sammeln ist sicher gesund. Da ist Durch-Brahmsen perfekt. Der Zustand der Welt ist unerträglich. Der Umgang der Menschen ebenso. Wir hören einander nicht zu. Wir wollen Recht haben statt Meinungsaustausch. Diskurs ist im Grunde verbunden mit dem Streben nach einer besseren Welt. Wir brauchen Durchlässigkeit und die Freude an Gegenpositionen, weil sie uns bereichern. Wir müssen uns reiben an Thesen, die wir ablehnen, weil wir nur so lernen. Und wir müssen bereit sein für die bahnbrechende Erkenntnis, dass manchmal nicht ich recht habe, sondern mein Gegenüber. Da kann das Eintauchen in Musik, das Zuhören und Annehmen, manchmal vielleicht auch das Aushalten auf dem Weg zu Reife hilfreich sein.
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