Sprachwissenschaft - Ein neues multimediales Lexikon-Projekt am Mannheimer IDS widmet sich dem Deutschen im Gespräch

Es gilt das gesprochene Wort

Von 
Thomas Groß
Lesedauer: 
Rede und Gegenrede: Die mündliche Sprache folgt eigenen Gesetzmäßigkeiten, denen Wissenschaftler vom IDS in Mannheim auf den Grund gehen. © istock

Die Sprache ist das Ganze, die geschriebene und gesprochene. Doch Letztere galt der Wissenschaft lange Zeit als mangelhaft – als von Stereotypen geprägt und jedenfalls bei weitem nicht so differenziert wie die Schriftsprache. Neuerdings werden die Besonderheiten des mündlichen Ausdrucks genauer betrachtet, und das erst recht im Zuge der noch jungen Gesprächsforschung, denn die Linguistik hat ja Sprache insgesamt, in ihrer Vielfalt und in ihrem tatsächlichen Gebrauch zum Gegenstand.

Die Bedeutung der Prosodie genannten Betonungsstruktur findet nun ebenso Berücksichtigung wie typische elliptische, also durch Auslassungen geprägte Fügungen oder auch musterhafte Wendungen. Aufnahmen konkreter Gesprächssituationen bilden hierfür die Arbeitsgrundlage, ein verlässliches Wörterbuch gesprochener Sprache steht bislang aber noch für keine größere Sprache zur Verfügung.

Fürs Deutsche will die Lücke das Projekt „Lexik des gesprochenen Deutsch“ schließen, das die Fachabteilungen Lexik und Pragmatik am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim gemeinsam betreuen. Als Datengrundlage dient das „Forschungs- und Lehrkorpus Gesprochenes Deutsch“ (FOLK), die größte Textsammlung fürs Deutsche in der Interaktion, die am IDS begründet wurde und die Alltags-, öffentliche sowie institutionalisierte, etwa aus schulischen Zusammenhängen stammende, Gespräche umfasst. Die ersten Wörterbuchartikel sind nun online publiziert worden.

Gesprächsausschnitte werden als Hörbeispiele mitgeliefert. Außerdem enthalten die Artikel neben Angaben zur Verwendung, Bedeutung und Funktion im Gespräch auch solche zu prosodischen Besonderheiten – und eine nachvollziehbare Analyse der dokumentierten Gesprächssituation auf Grundlage einer Transkription. Anschaulich soll so auch die spezifische Funktion typischer Formen für die Gesprächsorganisation werden, wenn es etwa gilt, einen Sprecherwechsel anzukündigen oder für die Themensteuerung zu sorgen.

Vorteile für Verlage und Lehrer

Dass es zu einzelnen Wörtern buchstäblich viel zu sagen gibt, beweist eine neuere Dissertation über das Verb „machen“; in der gesprochenen Sprache wird es charakteristisch anders als im Schriftdeutschen verwendet und variiert erst recht hier kontextabhängig in der Bedeutung – etwa im Sinne von „an-“ oder „übernehmen“ in der Wendung „Ich mach’ das“. Vor allem um eine Einschätzung und Bewertung auszudrücken, taucht das Verb „finden“ im Korpus auf. Und die Analyse des Verbs „gucken“, so legt jetzt ein Wörterbuchartikel dar, fördert neun Bedeutungsnuancen oder Lesarten zutage, wohingegen in den meistverbreiteten Wörterbüchern allenfalls drei aufgeführt sind.

Auch das Modalverb „können“ bietet sich mit seinen gesprochensprachlichen Merkmalen für eine nähere Betrachtung an, so in der Wendung „kann ich mal?“. Eine lexikographische Aufarbeitung erfuhren jetzt etwa auch das nicht adjektivisch gebrauchte „gut“ zum Abschluss einer Gesprächssequenz, das eine Kenntnisnahme ausdrückt, sowie das vielseitige Wörtchen „halt“. Stefan Engelberg, Leiter der Abteilung Lexik, möchte zudem das Wörterbuch für formelhafte Mehrwortverbindungen offen halten, wie er dieser Zeitung sagte.

Nicht nur die linguistische Forschung soll von dem Internetlexikon, das mit Links zu anderen Quellen führt, profitieren. Es kann auch für Deutschlehrer oder Verlage von Vorteil sein, die Materialien für den Sprachunterricht erarbeiten. Ob es auch für Lernende selbst von Nutzen sein kann? Da zeigt sich Engelberg eher skeptisch – oder eben realistisch: Wörterbücher sind beim Lesen und Schreiben nützlich, im Gespräch aber kaum zu handhaben.

Der Prototyp des Lexikons mit Artikeln zu charakteristischen Wortverwendungen im gesprochenen Deutsch ist frei verfügbar auf der Forschungsplattform OWIDplus unter der Internetadresse https://www.owid.de/legede. Eine Fortschreibung bereiten die Linguisten derzeit vor. Prinzipiell sind dem lexikographischen Ehrgeiz dabei keine Grenzen gesetzt, weshalb etwa auch ein Artikel zu „Gott“ vorstellbar wäre. Als Ausdruck des Erstaunens und Erschreckens („Oh Gott“) oder einer Überlegung am Satzanfang („Ach Gott“) hat eine höchste Macht ja auch in der gesprochenen Sprache spezifische Eigenarten und kann auch hier entlastend wirken.

Info: Mehr Informattionen unter: www.owid.de/legede

Neues Online-Lexikon

Das neue Wörterbuch widmet sich der gesprochenen Sprache und ihren Besonderheiten. Es wird von zwei Fachabteilungen des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim gemeinsam erarbeitet.

Es ist zugänglich auf der Forschungsplattform OWIDplus unter https://www.owid.de/legede; bislang sind – als eine Art Prototyp des Lexikons – zehn Artikel online. Die Fortschreibung wird vorbereitet.

Die Besonderheiten der gesprochenen Sprache finden in der Linguistik neuerdings verstärkt Berücksichtigung; früher war die germanistische Sprachwissenschaft vor allem am Schriftdeutschen orientiert – auch deshalb, weil es an Quellenmaterial der gesprochenen Sprache mangelte.

Redaktion Kulturredakteur, zuständig für Literatur, Kunst und Film.

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen