Literatur

Darum ist die Erzählung für Ralf Rothmann so wichtig

Auf gewohnt hohem Niveau: Ralf Rothmanns neuer Erzählungsband „Museum der Einsamkeit“ fördert die kleinen Katastrophen des Alltags zu Tage. Lesenswert.

Von 
Peter Mohr
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Erzählt von Menschen, die auf der Schattenseite unserer Gesellschaft leben: Ralf Rothmann. © picture alliance / EIDON/MAXPPP

Der inzwischen 72-jährige Ralf Rothmann schreibt seit mehr als drei Jahrzehnten auf einem konstant hohen Niveau – sowohl in seinen Roman als auch in den Erzählungen und in seinen Gedichten. Er hat sich in all seinen Romanen immer auch ein wenig am eigenen Leben abgearbeitet, aber aus stets wechselnden Perspektiven. Seine Romane über Kindheit und Jugend im Ruhrgebiet („Wäldernacht“, 1994, „Milch und Kohle“, 2000, „Junges Licht“, 2004) sind in all ihrer Düsternis präzise Milieustudien aus einer Zeit, als die Schornsteine noch rauchten und Kohle zwischen Dortmund und Duisburg oft als „schwarzes Gold“ bezeichnet wurde.

Ähnlich ist es auch um die Berlin-Romane bestellt („Flieh, mein Freund“, 1998, „Hitze“, 2003, „Feuer brennt nicht“, 2009). In „Der Gott jenes Sommers“ (2018) hatte sich Rothmann literarisch mit seinen Eltern auseinandergesetzt, und im Mittelpunkt des letzten Romans „Die Nacht unterm Schnee“ (2022) stand seine Mutter.

Wie Rothmann erklärte, gehört seine heimliche Liebe jedoch den Erzählungen: „Wir erleben ja keine Romane, wir erleben Erzählungen, und zwar zig Erzählungen jeden Tag. Und der Blick auf diese Episoden, die dann Erzählungen werden können, der ist ein genauerer.“ Nun hat er seinen fünften Band mit Erzählungen vorgelegt, der insgesamt neun Texte umfasst.

Es geht darin überwiegend um Menschen, die auf der Schattenseite unserer Gesellschaft leben, die mit ihrer Existenz hadern und vor einer ungewissen Zukunft stehen. Angst vor dem eigenen Tod oder dem Tod eines nahen Angehörigen zieht sich wie ein roter Faden durch den Band.

Ein junger Maurerlehrling, der an Rothmanns Jugend erinnern könnte, ein unglücklicher Maler, ein Junge, der allein zu Hause ist und auf seinen kleinen, ungeliebten Bruder aufpassen muss, während seine Eltern sich vergnügen: Es sind Geschichten ohne die ganz großen Ereignisse, und doch vermitteln sie ein Höchstmaß an Alltags-Traurigkeit. Man glaubt, Tränen in den Augenwinkeln der Figuren zu sehen.

Ganz ohne Pathos und formale Akrobatik

Handfester wird das drohende Unglück im Fall einer Frau, die nach dem Tod ihres Mannes von ihrer unverheirateten Tochter in eine Senioren-Residenz an der Ostsee, ins „Museum der Einsamkeit“ abgeschoben werden soll. Thematisch etwas aus dem Rahmen fällt die den Band beschließende Erzählung „Psalm und Asche“. Darin geht es mit Blick auf die düstere NS-Vergangenheit ums Leugnen, Verdrängen und Bagatellisieren im Zusammenhang mit der Deportation von Juden. Wie Rothmann es in diesen Schilderungen schafft, Mörder ohne schlechtes Gewissen darzustellen, geht tief unter die Haut. Damit hat er einmal mehr unterstrichen, dass er es mit großer Bravour versteht, authentische Menschenbilder zu zeichnen – vom liebenswerten Nachbarn bis hin zum verachtenswerten Mörder.

Ralf Rothmann hat sich nie um literarische Trends gekümmert. Ohne Pathos und formale Akrobatik beleuchtet er meisterlich die Zwischenräume im Kleine-Leute-Milieu und fördert so die kleinen Katastrophen des Alltags zu Tage. Sein präziser, geradezu sezierender Blick ist einzigartig.

Ralf Rothmann: Museum der Einsamkeit. Erzählungen. Suhrkamp Verlag, Berlin. 268 Seiten, 25 Euro.

Freier Autor seit rund 20 Jahren als Autor fürs Feuilleton tätig. Schwerpunkt: Literaturkritik

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