Gibt es auch Gutes zu sagen über diesen Krieg Russlands gegen die Ukraine? Etwa, dass Putins Kalkül einer raschen Kapitulation Kiews nicht aufgegangen ist? Dass die Nato wieder lebt? Dass Deutschland nun unabhängig ist von russischen Energielieferungen? Dagegen stehen nach einem Jahr Hunderttausende Tote auf den ukrainischen Schlachtfeldern, jeden Tag werden es mehr. Und Putin will diesen Krieg weiter führen, will keinen Frieden mit der Ukraine, keinen Dialog mit dem Westen. Er schwört seine Eliten auf eine jahrelange Eskalation ein.
Die westlichen Sanktionen haben der russischen Wirtschaft bislang kaum zugesetzt, allein weil China, Indien, die Türkei und selbst das EU-Mitglied Ungarn daraus Profit schlagen. Von der erhofften Destabilisierung des Kremls ist noch nichts zu sehen.
Einen Frieden, der dieses Wort verdient, kann es dennoch nicht mit Waffengewalt geben, sondern schlussendlich mit einer Einigung, formal, schriftlich, vertraglich. Waffen werden allerdings den Weg dorthin bereiten. Niemand, der politisch und militärisch involviert ist, glaubt an ein baldiges Kriegsende, und Zuversicht gehört nicht zum Besteckkasten der geopolitischen Strategen. Als der Großphilosoph Jürgen Habermas vor Kurzem einen Weg zu Verhandlungen mit Russland forderte, entgegneten ihm die Kommentatoren mit einem müden Nicken: Im Prinzip richtig. Im Prinzip. Die „Neue Zürcher Zeitung“ attestierte Habermas, in ein diplomatisches Nirwana hinein appelliert zu haben. Derzeit gibt es keine akzeptable Idee für einen Kompromiss und damit keine Perspektive für ein absehbares Ende. So sieht die Realität nach einem Jahr Krieg aus.
In Deutschland sitzt derweil der Schock über den russischen Angriff noch immer tief. Der gelernte Pazifismus der Nachkriegszeit durch die Schuld an zwei Weltkriegen kollidiert unentwegt mit der Realität. Die quälende Hilflosigkeit der deutschen Debatte etwa um Panzerlieferungen ist geprägt durch die tiefsitzende deutsche Angst, sich wieder auf die falsche Seite der Geschichte zu begeben. Wen also trifft mehr Schuld? Denjenigen, der den Völkermord an den Ukrainern mit militärischer Hilfe beenden will und zum Akteur wird - oder denjenigen, der aus historisch gewachsener Haltung für Gewaltlosigkeit einsteht und daher nicht eingreift?
Für die Antwort braucht es Fakten: Momentan muss Deutschland weder sich selbst noch Europa verteidigen, auch nicht die Freiheit oder die Demokratie. Das übernehmen für uns - noch - die Ukrainer.
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Fränkische Nachrichten Plus-Artikel Kommentar Deutschland ist in der Realität angekommen
Derzeit gibt es keine akzeptable Idee für einen Kompromiss und damit keine Perspektive für ein absehbares Ende des Ukraine-Kriegs, meint Karsten Kammholz