Big Data. Digitalisierung. Künstliche Intelligenz. Begriffe, die oft negative Gefühle wecken. Groß ist die Angst vor Datendiebstahl und -missbrauch. Dabei können Daten Leben retten. Von Joana Rettig
Oft ist es die Angst vor dem Unbekannten, die uns bremst. Etwa wenn wir auf das ersehnte Ziel zulaufen, wir endlich ankommen wollen – dann hält sie uns zurück, hemmt uns. Doch auch wenn wir auf den Horizont zulaufen, vor Glück fast blind sind und den Abgrund vor unseren Füßen nicht sehen – auch dann bremst und schützt sie uns. Das Unbekannte, das ist für viele Menschen die Welt der Daten. Dunkel stellen wir sie uns vor, kriminell. Boshafte Namenlose, die in düsteren Räumen sitzen und unsere Identität in Form von Nullen und Einsen stehlen, Informationen an Firmen verkaufen. Mit unserem Verlust Geld machen. Doch das ist nur eine Seite. Denn Daten retten auch Leben.
Die Rede ist von Gesundheitsdaten. Das sind etwa Informationen aus Laboranalysen wie genetische Tests oder Blutwerte, Daten aus Therapien und Reporte zum gesundheitlichen Zustand. Diese Daten sind für verschiedene Personengruppen relevant: Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte, aber auch Forschende in Instituten und Pharmaunternehmen. Letztere können mit Gesundheitsdaten zum Beispiel Algorithmen entwickeln und trainieren. Künstliche Intelligenz (KI).
Penzberg in Oberbayern. Eine Kleinstadt, umringt von Bergen und Seen. Hier sitzt Anna Bauer-Mehren. Die biomedizinsche Informatikerin leitet am dortigen Roche-Standort die Abteilung Data Science. Pharmaindustrie und Big Data mitten im bayrischen Bergland. Für Bauer-Mehren sind Gesundheitsdaten Berufung. Relevant sind sie, „weil wir uns einen Patienten von verschiedensten Seiten ansehen müssen, wenn wir verstehen wollen, was mit seiner Erkrankung passiert“.
Das übergeordnete Ziel, sagt sie, ist die personalisierte Medizin. Medikamente mit möglichst wenig Nebenwirkungen entwickeln, Krankheiten in ihrer Individualität verstehen, Therapien passgenau konstruieren. Und man will aufklären, sensibilisieren. Dafür organisiert der Schweizer Pharmakonzern, der mit 8400 Mitarbeitenden einen großen Standort in Mannheim hat, eine digitale Gesprächsrunde. Jeder und Jede ist eingeladen, darf fragen stellen. Am 27. April wird es ab 16.30 Uhr einen Youtube-Live-Stream geben.
Roche ist mit der Nutzung von Datensätzen nicht allein. Die Pharma- und Life-Science-Industrie lebt davon. Doch wie gelangen sie an diese Informationen? Teilweise erheben sie sie selbst. Doch das reicht nicht. „Wenn wir so nah wie möglich an die Realität herankommen wollen, brauchen wir immer mehr Daten“, sagt Bauer-Mehren. Jetzt geht es in die echte Welt. Krankenhäuser, Praxen. „Real-World-Data“.
Auch das US-amerikanische Pharmaunternehmen Abbvie mit einem Forschungsstandort in Ludwigshafen nutzt sie. Anonymisiert – versteht sich. „Zusätzlich zu den von uns selbst generierten Daten, greifen wir in der Forschung und Entwicklung auch auf öffentlich verfügbare Daten, zum Beispiel aus wissenschaftlichen Publikationen oder Datenbanken zurück“, erklärt ein Sprecher. Im Bereich der „Real-World-Daten“ haben Abbvie, aber auch Roche Zugriff auf Langzeitstudien mit Patientengruppen, sogenannter Kohorten-Daten – umfangreiche Gesundheitsdaten, die kommerziell angeboten werden. Der Tübinger Impfstoff-Hersteller Curevac erhebt selbst gar keine Daten, teilt ein Sprecher mit. Man nutzt nur Informationen aus klinischen Zentren.
Mit Daten Krankheiten bekämpfen. Das wird gefördert. 50 Millionen Euro stellt das Bildungs- und Forschungsministerium für digitale Datenforschungszentren bereit. Auch die Universitätsmedizin Mannheim profitiert davon. Bisher wurden Patientendaten häufig nur in den Systemen der Krankenhäuser oder Praxen gespeichert und für Abrechnungen genutzt, erklärt Thomas Ganslandt. Er leitet die Abteilung für Biomedizinische Informatik an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg. Doch die Nutzung ändert sich. Durch die Datenzentren stünden diese Informationen für die Forschung bereit. Die Daten blieben in der Obhut der Kliniken, würden aber einheitlich und pseudonym für die Forschung verfügbar gemacht. Die Informationen werden innerhalb der Zentren ausgewertet – also in den Kliniken. Dort, wo die Daten auch jetzt schon liegen. Forschende erhalten nur anonyme Ergebnisdaten. Mit dieser Vorgehensweise könnten auch gemeinsame Auswertungen mehrerer Unikliniken durchgeführt werden.
Doch es muss sichergestellt werden, dass die Anonymisierung beständig ist, dass die Daten geschützt werden – vor Hackern etwa. Dazu trennt man die Informationen: Medizinische und identifizierende Daten werden nicht an gleicher Stelle gespeichert. Und: „Vor einer Auswertung muss ein Forscher die Beratung der Ethikkommission einholen“, sagt Ganslandt. Zudem müssen wissenschaftlicher Nutzen, mögliche Risiken und Schutzmaßnahmen bewertet werden. Ein sogenanntes Use-&-Access-Komitee vertritt bei der Entscheidung auch die Interessen der beteiligten Kliniken bei Datennutzungsanfragen. „Nur mit den entsprechenden Freigaben können Auswertungen tatsächlich durchgeführt werden.“ 200 Millionen Laborbefunde von einer Million Patienten hat das Zentrum in Mannheim gespeichert. Noch ist diese Initiative eine Kooperation der Unikliniken. Man sei aber offen für Fragen von externen Forschenden.
Zurück nach Penzberg. Wo Anna Bauer-Mehren über die Nutzung von Gesundheitsdaten bei Roche spricht. „Real-World-Daten“ – die in Deutschland kaum zu beschaffen sind. Roche holt sich diese aus den USA. Bauer-Mehren hofft, dass sich dies bald ändern wird. Denn die digitale Patientenakte ist ja in diesem Jahr gestartet. Daten daraus zu ziehen, ist aber noch nicht möglich. „Ich wünsche mir im Bereich Zugriff auf ,Real-World-Daten’ mehr Geschwindigkeit“, sagt sie. Doch hier kommt wieder die Angst ins Spiel.
Die Akzeptanz in der Bevölkerung ist gemischt. 70 Prozent bewerten die Nutzung von Gesundheitsdaten zu Forschungszwecken allgemein positiv. Das zeigt eine repräsentative Umfrage im Auftrag des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Allerdings gaben auch 65 Prozent an, dass sie Risiken im Bereich Datensicherheit und -missbrauch sehen.
Auch Abbvie in Ludwigshafen macht sich Gedanken darüber. „Datenschutz spielt eine wichtige Rolle“, sagt der Abbvie-Sprecher. Einig seien sich die Expertinnen und Experten zudem darüber, dass nicht nur die Daten selbst geschützt, sondern vor allem deren Missbrauch verhindert werden müsse.
URL dieses Artikels:
https://www.fnweb.de/wirtschaft_artikel,-wirtschaft-so-nutzen-pharmafirmen-unsere-daten-_arid,1788612.html