Berlin. Die Gefahr ist unsichtbar, der Stoff riecht und schmeckt nicht, ist mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen. Doch wer Asbest bearbeitet, muss damit rechnen, dass sich sein Staub oder einzelne Fasern übers Einatmen auf die Lunge legen. Die Mineralfasern, die dünner sind als Haare, können Krebs oder andere Krankheiten auslösen – auch noch 20 bis 50 Jahre nach dem Kontakt mit dem Stoff. Jedes Jahr sterben 1500 Menschen an den Folgen von Asbest-Erkrankungen.
Die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) schlägt deshalb Alarm. Angesichts der bevorstehenden Sanierung von Millionen älterer Wohnhäuser warnen die Gewerkschafter vor steigenden Asbest-Erkrankungen. „Mit der Sanierungswelle droht jetzt eine ‚Asbest-Welle‘. Sie ist eine besondere Gefahr für Bauarbeiter und Heimwerker“, warnt Carsten Burckhardt, Bundesvorstand für die Bauwirtschaft und den Arbeitsschutz. Er fordert alle auf, sich bei Bauarbeiten in Gebäuden mit Asbest-Altlasten zu schützen – „das kann Leben retten“.
Ob energetische Sanierung, Modernisierung, senioren- oder familiengerechter Umbau: Insgesamt müssen in den nächsten zwei Jahrzehnten gut 9,4 Millionen Wohngebäude saniert werden, die zwischen 1950 und 1990 gebaut wurden und in denen Asbest besonders oft verwendet wurde. Betroffen sind 20 Millionen Wohnungen in Ost- und Westdeutschland. „Die Hälfte der Menschen lebt in einem solchen Gebäude“, sagt Matthias Günther, Leiter des Pestel Instituts.
Asbest galt einst als Wunderbaustoff. Er ist besonders beständig, unempfindlich, leicht und feuerfest – und wurde in vielen Bereichen im Bau eingesetzt. „Doch er war lebensgefährlich und krebserregend für alle, die damit gearbeitet haben – eine Bausünde“, so Burckhardt. 1993 wurde Asbest bundesweit verboten.
Bewohner nicht in Gefahr
Die gute Nachricht: Wer in Gebäuden mit asbesthaltigen Baustoffen lebt, ist nicht gefährdet. „Eine unmittelbare Gefährdung für die Gesundheit gibt es nicht“, sagt die Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG BAU). Asbest in diesen älteren Gebäuden wird erst dann zum Problem, wenn saniert oder umgebaut wird, Asbeststaub und -Fasern freigesetzt werden. Dies gilt für Umbauten in Bädern oder Kellern, wenn Wände versetzt, Fliesen, Fußböden oder Leitungen erneuert werden müssen.
„Diese Altbauten sind ein Millionen Tonnen schweres Asbest-Lager“, warnt der Gewerkschafter. Asbest wurde an vielen Stellen eingesetzt – vor allem als Klebstoff und Spachtelmasse. Aus den damals importierten 4,35 Millionen Tonnen Asbest wurden rund 3500 Produkte hergestellt – die meisten für den Bau. „Aus Asbestzement entstanden vor allem Rohre, Fassadenverkleidungen oder Blumenkästen, aber auch Dacheindeckungen“, so Burckhardt. Im Westen wurden die viel eingesetzten Eternitplatten bis 1989 mit Asbest hergestellt, in der DDR hießen diese Asbestzement-Welltafeln Baufanit.
Ein großes Problem ist Spritzasbest, mit dem Aufzugsschächte oder Schächte für Versorgungs- und Entsorgungsleitungen ausgekleidet wurden. „Hier sind die Asbestfasern schwächer gebunden. Sie können deshalb leichter freigesetzt werden“, so der Experte. Die Aufzüge wurden vorwiegend in großen Gebäuden errichtet.
Jeder, der eine Wohnung oder ein Gebäude aus dieser Zeit renoviert, muss damit rechnen, auf Asbest zu stoßen. Oberstes Gebot ist deshalb der persönliche Schutz vor Staub, der bei den Arbeiten entsteht. Heimwerker und Bauarbeiter sollten dazu immer eine Atemschutzmaske tragen und staubdichte Schutzanzüge. Nach der Arbeit sollten die Anzüge abgesaugt, auf links gedreht und entsorgt werden, empfiehlt der Gefahrstoffexperte der IG Bau, Norbert Kluger: „Staubfreies Arbeiten ist möglich.“ In den belasteten Bereichen sollten Luftreiniger und Schleusen eingesetzt werden.
Denn Asbest ist tückisch und schon in kleinsten Mengen gesundheitsgefährdend. Dies musste auch Wolfgang Leihner-Weygandt leidvoll erfahren. Der heute 69-jährige Maurer hatte jahrelang Eternitfaserplatten mit der Kreissäge zugeschnitten, verwendete Spachtelmassen mit Asbest – und arbeitete wie damals üblich ohne Maske oder Schutzanzug. Kein Arbeitgeber wies ihn auf die Gefahren hin. 1994 bekam er plötzlich Schmerzen an der Schulter. Es sollte das erste Symptom seines Lungenkrebses sein. „Ich hatte Glück gehabt und bin dem Totenbett entsprungen“, sagt er. Denn die Mehrheit der Lungenkrebserkrankten überlebt nicht.
Schadstoff-Pass gefordert
Insgesamt starben in den vergangenen zehn Jahren 3376 Versicherte der BG BAU infolge einer asbestbedingten Berufserkrankung, darunter 320 Bauarbeiter im Jahr 2022. Typische Erkrankungen sind Asbestose, Lungen-, Bauchfell- oder Kehlkopfkrebs.
Zum besseren Schutz fordert die IG Bau einen Schadstoff-Pass für alle Gebäude, in dem unterschiedliche Gefahrenstufen für die Asbestbelastung festgehalten werden. „Jeder Bauarbeiter und jeder Heimwerker muss wissen, auf was er sich einlässt, wenn er Fliesen abschlägt, Wände einreißt oder Fassaden saniert“, so Burckhardt. Zudem fordert er eine staatliche Renovierungs-, Sanierungs- und Abwrackprämie für Asbest-Häuser.
URL dieses Artikels:
https://www.fnweb.de/wirtschaft_artikel,-wirtschaft-in-20-millionen-wohnungen-lauert-asbest-_arid,2114440.html