Mannheim. Herr Schulz, bundesweit könnte bald die Marke von drei Millionen arbeitslosen Menschen geknackt werden. Steigt die Zahl auch in Mannheim weiter?
Thomas Schulz: Im optimalen Fall gehe ich davon aus, dass wir eine Stagnation auf hohem Niveau sehen. Es könnte aber auch sein, dass sich die Zahl im Herbst und Winter saisonbedingt noch leicht erhöht. Insgesamt waren im Juli 14.500 Menschen in Mannheim ohne Beschäftigung. Dazu muss man wissen: Mehr als zwei Drittel davon werden durch das Jobcenter betreut. Sie sind also entweder schon länger arbeitslos oder waren nicht lange genug im Job, um Anspruch auf Arbeitslosengeld zu haben. Das ist ein Mannheimer Phänomen und hat was mit der Arbeitsmarktstruktur hier zu tun.
Mannheimer Phänomen ist ein gutes Stichwort: Die Stadt ist ein starker Wirtschaftsstandort, hat mit 7,9 Prozent aber die höchste Arbeitslosenquote in Baden-Württemberg. Warum eigentlich?
Schulz: Zwischen den 19 Arbeitsagenturbezirken im Land gibt es eine starke Spreizung: Die niedrigste Arbeitslosigkeit hat Ulm mit 3,2 Prozent, die – mit Abstand – höchste Quote von 7,9 Prozent hat Mannheim. Die Stadt ist als klassischer Industriestandort zum einen stark betroffen durch den strukturellen Wandel, also den Wegfall von Industriearbeitsplätzen zugunsten des Dienstleistungssektors. Zum anderen haben wir eine besondere Bevölkerungsstruktur: Es gibt einen sehr hohen Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund, die sich oft am Arbeitsmarkt schwerer tun, weil sie vielleicht nicht gut Deutsch sprechen oder keinen verwertbaren Schul- oder Berufsabschluss haben.
Das Problem ist: Diese offenen Stellen matchen ganz oft nicht mit den Bewerbern, die bei uns oder beim Jobcenter gemeldet sind.
Mannheim ist tatsächlich sehr industriell geprägt, hat aber darüber hinaus einen großen Branchenmix. Warum wirkt sich das nicht stabilisierender auf den Arbeitsmarkt aus?
Schulz: Es stimmt, Mannheim ist wirtschaftlich breit aufgestellt, deshalb haben wir auch immer noch relativ viele offene Stellen. Aktuell sind es rund 2.900. Das Problem ist: Diese offenen Stellen matchen ganz oft nicht mit den Bewerbern, die bei uns oder beim Jobcenter gemeldet sind. Oder anders gesagt: Die Entwicklung der Arbeitslosigkeit und die Beschäftigungsquote, die früher parallel gelaufen sind, haben sich entkoppelt.
Das müssen Sie erklären.
Schulz: Früher war es in der Regel so: Wenn es mit der Beschäftigung nach oben ging, Unternehmen mehr eingestellt haben, ist auch die Zahl der Arbeitslosen gesunken. Jetzt haben wir dagegen den Effekt: Die Beschäftigung steigt, wir kommen aber von den Arbeitslosenzahlen nicht runter. In Mannheim zum Beispiel haben wir im Moment ein historisches Hoch der Arbeitslosigkeit, gleichzeitig waren noch nie so viele Menschen erwerbstätig wie jetzt. Auch bei den offenen Stellen bewegen wir uns kontinuierlich auf einem sehr hohen Niveau. Die Unternehmen in Mannheim stellen weiter ein, da sehen wir keine größeren Einbrüche oder einen stetigen Rückgang. Das Problem ist aber, dass das Jobangebot sehr oft nicht mit den Menschen zusammenpasst, die über uns Arbeit suchen.
Chef der Mannheimer Arbeitsagentur
Thomas Schulz ist seit November 2019 Vorsitzender der Geschäftsführung bei der Agentur für Arbeit Mannheim .
Der Diplom-Verwaltungswirt aus Oberhausen arbeitet seit gut 40 Jahren für die Behörde.
Bevor Schulz seinen jetzigen Posten übernommen hat, war er als Geschäftsführer für den Operativen Service in Mannheim verantwortlich.
Wo gibt es denn im Moment offene Stellen in Mannheim?
Schulz: Vor allem im Verkehr und in der Logistik, in der Produktion, aber auch im Einzelhandel. Gesucht werden vor allem Fachkräfte. Wer eine abgeschlossene Berufsausbildung hat, die deutsche Sprache beherrscht und die klassischen Softskills wie Pünktlichkeit oder Zuverlässigkeit mitbringt, hat auf dem Arbeitsmarkt nach wie vor gute Chancen.
Auffällig ist, dass vor allem die Zahl der jungen Menschen, die arbeitslos gemeldet sind, in Mannheim zuletzt stark gestiegen ist. Wie sehr beunruhigt Sie das?
Schulz: Diesen Effekt gibt es jedes Jahr im Juli, weil sich da viele Jugendliche bei uns melden, die ihre schulische oder betriebliche Ausbildung beendet haben. Dazu kommt, dass zum 30. Juni ein Quartal endet, da gibt es immer etwas mehr Entlassungen. Davon sind natürlich auch einige jüngere Menschen betroffen. Was wir jedoch sehen ist, dass es aufgrund der hohen Arbeitslosenquote in Mannheim für Berufseinsteiger in diesem Jahr auch schwieriger ist, in eine neue Beschäftigung zu kommen. Im Vergleich zum Vorjahr hatten wir im Juli knapp 80 weniger Abgänge aus der Arbeitslosigkeit. Bedingt durch das Sommerloch und zahlreiche Betriebsferien rechnen wird jedoch im August, September hier wieder mit einer Abnahme.
Aber der Jugendliche muss die Bereitschaft haben, sich das Angebot abzuholen. Da bricht ganz viel weg.
Wenn wir von Berufseinsteigern sprechen: Eine Bertelsmann-Stiftung hat kürzlich ergeben, dass mehr als 20 Prozent aller jungen Menschen nach der Schule direkt arbeiten wollen, statt eine Ausbildung zu beginnen. Versagt da die Berufsberatung?
Schulz : Ganz klar: nein. Aber wir haben hier eine Freiwilligenkultur. Es gibt ein breites Angebot für Schüler, von Berufsorientierungslehrern über städtisch finanzierte Ausbildungslotsen bis zu unseren Berufsberatern. Aber der Jugendliche muss die Bereitschaft haben, sich das Angebot abzuholen. Da bricht ganz viel weg. Vor allem, wenn die Eltern sich nicht kümmern, wird es schwer.
Viele Jugendliche, vor allem mit niedrigerer Schulbildung, zweifeln daran, dass sie auf dem Ausbildungsmarkt überhaupt eine Chance haben. Dieser Sorge muss man doch etwas entgegensetzen.
Schulz: Wir haben auch für Jugendliche mit schwachen Schulleistungen Angebote. Wir fördern zum Beispiel Berufsvorbereitungsjahre, in denen gezielt versucht wird, die Ausbildungsreife herzustellen. Aber nochmal: Wir können die jungen Menschen nicht zwingen. Ein weiterer Aspekt ist, dass wir inzwischen in Deutschland einen recht hohen Mindestlohn haben. Wenn ein Jugendlicher den mit den Gehaltsaussichten im ersten Lehrjahr vergleicht und vielleicht vom Thema Lernen sowieso frustriert ist, erscheint ihm das attraktiv. Und wenn er dann entscheidet, lieber direkt arbeiten zu gehen, findet er auch Jobs. Aber perspektivisch schießt er sich damit ins Aus.
Wie kann man diese beruflichen „Sackgassen“ verhindern?
Schulz: Ein ganz großer Gewinn für Schüler sind nach unserer Erfahrung berufliche Praktika. Wenn sie es über diese Hürde schaffen, passieren zwei Dinge: Der Betrieb lernt einen Jugendlichen mit eher schlechten Noten als Mensch kennen. Er entdeckt vielleicht persönliche Stärken, die man in einem Zeugnis nicht ablesen kann. Der Schüler wiederum macht im besten Fall die Erfahrung, dass er eben doch was kann, obwohl ihn Lernen immer so frustriert hat. Das ist ein mächtiger Hebel, deshalb arbeiten wir gerade mit Mannheimer Schulen daran, wie wir Jugendliche schon in der achten oder neunten Klasse stärker an die Betriebe kriegen.
Angebote gibt es dafür ja schon, zum Beispiel die Praktikumswochen in Baden-Württemberg.
Schulz: Ja, aber das läuft oft in den Ferien. Und jetzt motivieren Sie mal einen 16-Jährigen, in dieser Zeit ein Praktikum zu machen. Das funktioniert meistens nur, wenn Eltern dahinterstehen, die sagen: Du machst das jetzt. Deshalb schauen wir gerade: Bekommen wir in den Regelschulbetrieb stärker Praktika integriert?
Wie könnte das konkret funktionieren?
Schulz: Es gab zum Beispiel in der DDR das Modell, dass Schüler ab einer bestimmten Klasse einen Tag in der Woche in einem Betrieb verbracht haben. Das hieß dann „Tag in der Produktion“. Ein Kollege von mir bei einer Arbeitsagentur in Nordthüringen hat das vor einiger Zeit adaptiert, mit großem Erfolg: Die Zahl der Jugendlichen, die nach der Haupt- oder Realschule direkt eine Ausbildung anfangen, ist im zweistelligen Prozentbereich gestiegen.
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