Berlin. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sieht ein mögliches Losverfahren bei der Auswahl von Wehrpflichtigen skeptisch. «Die (Koalitionäre) müssen selbst bewerten, ob das Losverfahren wirklich ein taugliches Verfahren ist. Lassen Sie mir etwas Zweifel zu», sagte er dem SWR-Magazin «Zur Sache Rheinland-Pfalz». Am Dienstag war eine Einigung von Unterhändlern der schwarz-roten Koalition auf ein Losverfahren überraschend geplatzt. Damit gehen Union und SPD heute ohne ein gemeinsames Konzept in die ersten parlamentarischen Beratungen über einen neuen Wehrdienst.
Auslöser des jüngsten Streits in der Koalition war die Frage, ob möglicherweise ein Losverfahren bei der Wehrpflicht eingeführt werden soll, wenn sich nicht genügend Freiwillige zum Wehrdienst melden. Als Präsident muss Steinmeier das Gesetz unterschreiben, damit es in Kraft tritt. Zuvor hat er ein Prüfungsrecht, das unter anderem die Frage umfasst, ob das Gesetz mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
Zuletzt verweigerte ein Präsident 2006 seine Unterschrift
Bislang kam es in der Geschichte der Bundesrepublik erst achtmal vor, dass ein Präsident ein Gesetz nicht unterzeichnete. Zuletzt war das 2006 der Fall, als der damalige Amtsinhaber Horst Köhler erst dem sogenannten Luftsicherheitsgesetz - das die Sicherheit des zivilen Luftverkehrs in Deutschland regelt - und kurz darauf auch dem Gesetz zur Neuregelung der Verbraucherinformation seine Unterschrift verweigerte.
Steinmeier bezeichnete den Streit über die Wehrpflicht als «kommunikative Fehlleistung». Er «glaube, das sehen mittlerweile nach einigen Stunden Abstand auch die Beteiligten selbst ein». Und er hoffe, dass das relativ schnell bereinigt werde.
Pressekonferenz nach Unstimmigkeiten abgesagt
Am Dienstag wurde eine angekündigte Pressekonferenz der Bundestagsfraktionen von Union und SPD kurzfristig abgesagt, weil es Streit über die Ausgestaltung einer wieder eingesetzten Wehrpflicht gab. «Das, was ich heute aus Berlin gehört habe, ist, dass der Schrecken groß ist. Und wenn der Schrecken groß ist, könnte es dazu führen, dass die Einigungsbereitschaft größer wird», sagte Steinmeier im SWR.
Der Streit innerhalb der Koalition war in den vergangenen Tagen eskaliert. Fachpolitiker von Union und SPD verständigten sich auf Änderungen am Entwurf von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), den das Kabinett im August beschlossen hatte. Die Vorschläge stießen bei ihm aber auf Widerspruch und wurden entgegen der Ankündigung der Experten dann doch nicht öffentlich vorgestellt.
Schülervertreter zur Wehrpflicht: Erst mal mit uns reden
Der Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz, Quentin Gärtner, beklagte, dass junge Menschen in der Debatte über die Wehrdienstreform nicht gehört würden. «Vielleicht sollte sich die Bundesregierung erst mal anständig mit den Betroffenen auseinandersetzen, statt sich in koalitionsinternen Scharmützeln zu verkämpfen», sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND).
«Die andauernde Verunsicherung führt bestimmt nicht zu mehr Akzeptanz bei jungen Menschen. Wir befinden uns ohnehin schon in einer Krise der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen», sagte der Schülervertreter. «Man zockt nicht um junge Menschen.»
Steinmeier rät zu Dienstpflicht für alle
Steinmeier sprach sich im SWR erneut für eine Dienstpflicht für alle aus. Junge Männer und Frauen sollte sich dann zwischen einer sozialen Pflichtzeit und einer Wehrpflicht entscheiden können. «Wir sollten uns nach meiner festen Überzeugung dem Gedanken öffnen, dass wir eine Dienstpflicht brauchen. Und ich bin nicht erst seit heute der Meinung, dass wir sie für Männer und Frauen brauchen», sagte er.
Der Ökonom Marcel Fratzscher schlug kürzlich vor, auch Ältere in die Pflicht zu nehmen und ihnen ein «soziales Jahr» abzuverlangen. Mit dieser Forderung sorgte er für jede Menge Unmut, auch bei Steinmeier. Der Bundespräsident erteilte der Idee eine klare Absage.
In den vergangenen Jahren sei die Zustimmung für eine Wiedereinsetzung der Wehrpflicht deutlich angestiegen, sagte Steinmeier. "Wenn wir jetzt wieder anfangen, gesellschaftliche Gruppen gegeneinander auszuspielen, die Jungen gegen die Alten, die Alten gegen die Jungen, dann glaube ich, verlieren wir wieder das, was wir an Überzeugungskraft schon geleistet haben."
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