Frau Voss-Tecklenburg, erst 1991 gab es die erste Weltmeisterschaft der Frauen. Sie haben an dem Turnier in China als Spielerin teilgenommen, Welche Erinnerungen haben Sie noch?
Voss-Tecklenburg: Nach einer EM, die wir 1989 ja gewonnen hatten, war die erste WM der nächste logische Schritt. Und ein Meilenstein mit vielen positiven Erlebnissen. Bei einem Training saßen auf einmal 6000 Chinesen in einem Stadion, um uns anzufeuern - wir wussten gar nicht, warum sie da waren, aber es war schön. Übrigens war auch Pelé dabei, der sagte, dass die Nummer sieben bei den Deutschen eine gute Spielerin ist. Das war ich (lacht)….
Dann haben die deutschen Fußballerinnen mit Ihnen aber das Halbfinale mit 2:5 gegen die USA und das Spiel um den dritten Platz gegen Schweden mit 0:4 verloren.
Voss-Tecklenburg: Es war ein großartiges Halbfinale mit einem Aha-Effekt für mich: Du spürst als Spielerin recht schnell, ob du noch irgendetwas bewegen kannst, aber dafür waren uns die Amerikanerinnen auch physisch viel zu überlegen. Im Spiel um Platz drei war dann die Luft raus. Ich bin da böse auf die Schulter gefallen und mit Schmerzen zurück in die Heimat geflogen bin. Die WM war unheimlich anstrengend, und ich hatte noch nie so viel Muskelkater, weil wir gefühlt jeden zweiten Tag gespielt haben und darauf gar nicht vorbereitet waren.
Nun kommt eine WM 2023 in Australien und Neuseeland, bei der erstmals 32 Nationen mitspielen. Ist der Fußball bei den Frauen denn schon so weit?
Voss-Tecklenburg: Das weiß ich auch noch nicht so richtig. Die Fifa ist für die WM 2019 in Frankreich schon auf 24 Teams hochgegangen - ich bin selber gespannt, wie jetzt die Ergebnisse in der Gruppenphase sein werden, weil es ein paar Nationen mit sportlichem Nachholbedarf gibt. Es wird sich zeigen, ob dieser Schritt vielleicht zu früh kommt, denn wir hatten einerseits vor vier Jahren schon heftige Resultate mit einem 13:0. (Weltmeister USA gegen Thailand im ersten Gruppenspiel, Anm. d. Red.). Andererseits liegt in einer Teilnahme für jedes Land auch die Chance, eine Entwicklung einzuleiten, um den Frauen- und Mädchenfußball weltweit zu fördern.
Die holprigen Testspiele gegen Vietnam (2:1) und Sambia (2:3) haben gezeigt, dass die WM kein Selbstläufer wird. Fühlen Sie sich jetzt in den Warnungen bestätigt?
Voss-Tecklenburg: Auf uns kommen drei komplett unterschiedliche Mannschaften zu, vor denen ich deshalb warne, weil es keine Gegner sind, die man bei einer WM heutzutage mal eben so besiegt. Marokko ist Neuling und dann machen sie gleich das erste Spiel gegen Deutschland, weshalb sie alle Emotionen auf den Platz lassen werden. Dann haben wir die zweite Partie gegen Kolumbien: Das ist mit ihrer Zweikampfhärte und Mentalität eine richtig gute Mannschaft, die den offenen Schlagabtausch suchen wird. Sie haben viel investiert in die Entwicklung, waren nicht umsonst bei den Nachwuchsturnieren gut dabei und haben in einem Freundschaftsspiel gegen Frankreich 2:0 geführt. Und dann haben wir am Ende noch Südkorea. Ein technisch gutes Team mit einem Trainer Colin Bell, der den deutschen Fußball mit allen Facetten gut kennt.
Sie beziehen in Wyong ein abgelegenes Quartier rund 90 Kilometer nördlich von Sydney. Machen Sie nicht denselben Fehler wie die Männer bei der WM in Katar?
Voss-Tecklenburg: Ich weiß nicht, ob die Männer schlechte Erfahrungen gemacht haben, ich habe kein Mäuschen spielen dürfen (lacht). Wir haben ein gutes Umfeld, in dem wir uns wohlfühlen. Fakt ist, dass wir am Tag vor jedem Spiel in einem Transferhotel sind - und damit direkt in Großstädten wie Melbourne, Sydney oder Brisbane. Und wir haben ja vorher die Spielerinnen gefragt. Als erste Antwort, was ihnen wichtig ist kommt immer: ein kurzer Weg zum Trainingsplatz.
Bei der EM in England spielten die Spielerinnen frei von Erwartungsdruck, groß auf. Haben Sie keine Bedenken, dass der Rucksack zu schwer wird, wenn Sie selbst vom Titel sprechen?
Voss-Tecklenburg: Wir wollen mit den Aufgaben wachsen, aber natürlich macht es etwas mit einem, wenn man mehr zu verlieren hat als zu gewinnen. Vor der EM war es ja wirklich so, dass wir schwer einzuschätzen waren. Ich will uns bestimmt kein Alibi geben, aber bei dieser WM melden acht, neun Nationen berechtigte Ansprüche an, um den Titel zu spielen - und diese Qualität haben wir auch.
Voss-Tecklenburg
- Martina Voss-Tecklenburg ist seit November 2018 Bundestrainerin der deutschen Frauen-Nationalmannschaft.
- Die gebürtige Duisburgerin bestritt selbst 125 Länderspiele, gewann zwischen 1984 und 2000 vier EM-, aber keinen WM-Titel.
- Nach der aktiven Karriere arbeitete sie als Verbandssportlehrerin Niederrhein, Bundesliga-Trainerin des FCR 2001 Duisburg und USV Jena und von 2012 bis 2018 als Nationaltrainerin der Schweiz, ehe sie zum Deutschen Fußball-Bund wechselte.
Sie haben mit der EM ganz viel angestoßen: Länderspiele vor mehr als 30.000 Zuschauern zur Prime-Time, den Besucherschnitt im Liga-Alltag verdreifacht und die Wahrnehmung deutlich erhöht. Also spricht alles für einen nachhaltigen Effekt?
Voss-Tecklenburg: Ich habe das erste Mal durch das vergangene Jahr das Gefühl, dass sich alles so zusammenfügt, dass ein stabiles Fundament entstanden ist. Wir kommen ja aus kleinen, teils reinen Frauenfußballvereinen, aber jetzt haben wir große Lizenzclubs, in denen der Frauenfußball teilweise auf einem richtig guten Niveau integriert ist. Dieses Rad wird nicht zurückgedreht. Die Zuschauer kommen gerne zu uns, weil es auch eine andere Atmosphäre ist. Familiär und nah, aber herausragende Leistungen bleiben die Basis.
Das betonen Sie.
Voss-Tecklenburg: Wenn die Spielerinnen in den Vereinen und in der Nationalmannschaft nicht auf dem Platz so gut agiert hätten, wären die Leute nicht gekommen. Aber natürlich haben wir immer noch ganz viele Themen, die nicht selbstverständlich sind. Sonst hätten wir uns nicht so lange über eine TV-Vermarktung einer Frauen-WM unterhalten: Im Männerfußball hätte es diese ungeklärte Situation so lange nicht geben! Daran sehen wir noch das Verbesserungspotenzial. Wir hinken immer noch 50 Jahre hinter dem Männerfußball hinterher. Wir haben in kurzer Zeit sehr, sehr viel erreicht, aber wir haben immer noch viel an der Basis zu tun, wenn ich an die Talentgerechtigkeit oder die weitere Professionalisierung in unseren Ligen und in unseren Vereinen denke. Die einen sagen auch, wir müssen die Liga größer machen, da sage ich aber: Das hilft aktuell noch nicht, weil wir schon genug Mannschaften mit Problemen haben, die entsprechenden Leistungen zu bringen. Wir dürfen das Rad nicht überdrehen.
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