Würzburg. Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, tritt vehement gegen die Verharmlosung des Holocausts in der Corona-Krise auf. Quasi ein Ausgleich zum Amt ist für den Würzburger sein Beruf als Mediziner und die Arbeit als Notarzt.
Im Gespräch mit den Fränkischen Nachrichten macht er deutlich, warum ihm dieses Engagement so wichtig ist. Der 67-Jährige spricht über „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“, über Antisemitismus im Alltag und ein nötiges Umdenken, das schon in der Schule beginnen muss.
Herr Dr. Schuster, Sie haben im Juni 2020 die Praxis an Ihren Nachfolger übergeben. Vermissen Sie die Patienten?
Dr. Josef Schuster: Patienten, die ich über Jahre, zum Teil Jahrzehnte behandelt habe, vermisse ich schon. Allerdings war es mit der zusätzlichen Auslastung durch die Ehrenämter schon etwas turbulent. Dass es jetzt ein bisschen ruhiger ist, verkrafte ich seelisch gut, zumal die Medizin ja nicht ganz außen vor ist. Ich fahre noch weiter regelmäßig Notarztdienst und mache Gutachten. So ganz weg von der Medizin bin ich also nicht.
Sie machen regelmäßig beim Bayerischen Roten Kreuz den Notarztdienst. Warum ist diese Arbeit für Sie so wichtig?
Dr. Schuster: Notfalldienst war schon im Studium und in meiner ganzen beruflichen Tätigkeit eine Herausforderung, der ich gerne nachgekommen bin. Ich habe während der Facharztausbildung im Würzburger Juliusspital die Intensivstation geleitet und war bereits als Student regelmäßig im Rettungsdienst tätig. Zudem habe ich von Anfang an als Notarzt gearbeitet. Das ist eine Tätigkeit, die mir Freude macht und mich seelisch befriedigt, weil man Menschen in akuter Not direkt helfen kann.
Werden Sie bei Ihren Einsätzen erkannt?
Dr. Schuster: Mitunter merkt man an der Reaktion, dass die Leute wissen, wer ich bin. Viele wissen es aber auch nicht. Zum einen schaut man als Notarzt schon von der Kleidung her anders aus, zum anderen ist es in Corona-Zeiten mit dem Mundschutz noch schwieriger, jemanden zu erkennen.
Das Klima gegenüber Rettungskräften ist rauer geworden. Wie haben Sie das wahrgenommen?
Dr. Schuster: Das ist ein sehr ernstes Thema. Man kommt immer wieder in Situationen, in denen Menschen unter Einfluss von Alkohol oder Drogen sowie bei psychischen Problemen eine deutlich höhere Aggression zeigen. Das Ganze wird dann noch etwas schwieriger, wenn der Einsatz nicht bei den Menschen zu Hause, sondern etwa auf der Straße oder in einer Kneipe stattfindet.
Hatten Sie schon öfter Einsätze mit prekären Situationen?
Dr. Schuster: Es gibt immer wieder solche Einsätze, aber nicht so, dass ich mit Leib oder Gesundheit bedroht war.
Worauf führen Sie als Mediziner dieses Verhalten zurück und auch das Verhalten von Gaffern?
Dr. Schuster: Da gibt es zwei Dinge. Zum einen Soziale Medien, zum anderen Smartphones mit der Möglichkeit zu filmen. Heute trägt jeder sein Handy bei sich. Ein Filmchen zu machen, ist deutlich leichter als früher. Und jeder hat eine gewisse innere Neugierde. Dass man das aber so auslebt und noch filmen muss, um es Bekannten zu kommunizieren, ist schon ein merkwürdiges Verhalten.
Sind die Situationen in Coronazeiten schwieriger geworden?
Dr. Schuster: Die Notarzteinsätze haben sich nicht verändert. Sie waren tatsächlich etwas weniger in den Zeiten der Ausgangsbeschränkung. Es fehlten die Einsätze nachts mit alkoholisierten Menschen.
Sie trauern dieser Situation aber nicht hinterher?
Dr. Schuster: Definitiv nicht.
Wie stehen Sie als Arzt und Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland zu Corona-Leugnern und Verschwörungsmythen, die Vergleiche mit der Nazi-Diktatur ziehen?
Dr. Schuster: Solche Aussagen sind völlig aus der Luft gegriffen. Ich habe dafür überhaupt kein Verständnis. Ich habe aber auch wenig Verständnis für Entscheidungen der Justiz, wenn zum Beispiel jemand die aktuelle Einschränkung der Freiheitsrechte mit dem Holocaust vergleicht, und dann gesagt wird, dies sei gedeckt durch die Meinungsfreiheit. In meinen Augen ist das eine dramatische Relativierung des Holocausts. Ich frage mich manchmal schon, ob unsere Justiz hier die richtigen Maßstäbe anlegt.
Das sind harte Worte…
Dr. Schuster: Ganz bewusst. Paragraf 130 Strafgesetzbuch spricht ausdrücklich davon, dass eine Leugnung oder Verharmlosung des Holocaust strafbar und nicht durch die freie Meinungsäußerung gedeckt ist. Wenn man die heutige Situation mit dem Holocaust gleichsetzt, dann relativiert man ihn genauso.
Die jüngste Gewalt zwischen Juden und Palästinensern im Nahen Osten erfüllt Sie mit großer Sorge. In Deutschland wurden Juden bedroht, israelische Flaggen verbrannt. Sie warnen vor einer gestiegenen Bedrohungslage. Müsste der Staat hier härter durchgreifen?
Dr. Schuster: Wenn auf einer Demo zu Gewalt gegen Juden aufgerufen oder volksverhetzende Parolen gebrüllt werden, muss die Polizei durchgreifen. Ebenso sollte geprüft werden, ob sich solches strafbares Verhalten auf das Aufenthaltsrecht auswirken könnte, wenn die Betreffenden nicht die deutsche Staatsangehörigkeit haben.
Fühlen sich jüdischer Mitbürger und ihre Einrichtungen ausreichend geschützt?
Dr. Schuster: In den allermeisten Fällen ja. An Jom Kippur 2019 war die Synagoge in Halle leider nicht ausreichend geschützt, sonst hätte der Anschlag mit zwei Toten und mehreren Verletzten vielleicht verhindert werden können. Doch seitdem sind die Sicherheitsmaßnahmen verschärft worden und der Bund hat Geld bereitgestellt, um jüdische Einrichtungen besser zu schützen.
Sie sind seit kurzem Mitglied des Ethikrats und wollen dort die jüdische Perspektive einbringen. Wie wollen Sie das umsetzen?
Dr. Schuster: Es geht nicht darum, krampfhaft zu jedem Thema die jüdische Perspektive einzubringen. Aber bei ethischen Fragen will ich unsere Sicht, die dem Schutz des Lebens oberste Priorität einräumt, einbringen. Unabhängig davon will ich auch meine medizin-ethische Expertise einfließen lassen.
Haben Sie das Gefühl, dass dieser Schutz des Lebens zu wenig hervorgehoben wird?
Dr.Schuster: Ich habe den Eindruck, dass die oberste Maxime „Schutz des Lebens“ von Menschen unterschiedlich gesehen wird. Im Judentum gibt es unterschiedliche Ansichten, ab wann beim Embryo von Leben gesprochen wird. Einigkeit herrscht, dass Embryonen in den ersten drei Monaten weniger schutzwürdig sind. Daher ist aus jüdischer Sicht etwa gegen Präimplantationsdiagnostik nichts einzuwenden.
Als Mitglied im Ethikrat haben Sie nun ein weiteres Ehrenamt angenommen?
Dr. Schuster: Das stimmt, aber das war nur deswegen möglich, weil ich wusste, dass ich meine Praxis abgeben werde. Vor einigen Jahren wurde ich schon einmal gefragt. Da hatte ich es aufgrund von Zeitmangel abgelehnt.
„1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“: Ist das ein Grund zum Feiern, zur Erinnerung? Oder sollte ein friedliches Miteinander nicht selbstverständlich sein?
Dr. Schuster: Wir sprechen bewusst nicht vom Jubiläum. Einen Grund zum Jubeln sehe ich nicht. Wir sprechen von einem Festjahr. Denn in diesen 1700 Jahren gab es Höhen und tiefe Tiefen. Es geht vor allem darum, dass jüdisches Leben nicht zu beschränken ist auf die Zeit von 1933 bis 1945, sondern über viele Jahrhunderte existierte und seit 1945 wieder existiert. Dass Juden nicht nur Opfer sind, sondern dass die jüdische Religion, jüdische Tradition und jüdische Kultur ganz eigene Facetten hat.
Was macht für Sie dieses besondere Jahr aus?
Dr. Schuster: Es ist ein Jahr, in dem quer durch Deutschland Veranstaltungen stattfinden, die sich mit dem Thema auseinandersetzen und jüdisches Leben, so hoffe ich, als selbstverständlichen Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens in Deutschland zeigen.
Was ist in Würzburg geplant?
Dr. Schuster: Im Herbst gibt es von der Universität eine Ringvorlesung über das Judentum aus ganz verschiedenen Aspekten, im Johanna Stahl-Zentrum wird es ein Kunstprojekt geben mit begleitenden Veranstaltungen. Zudem gibt es Vorträge von verschiedenen Organisationen und Internetauftritte.
Es sind Veranstaltungen, um das Thema Antisemitismus in den Hintergrund zu rücken?
Dr. Schuster: Der Antisemitismus soll nicht in den Hintergrund gerückt werden, aber er ist nicht Schwerpunkt des Jahres. Indirekt hoffe ich, dass es gelingt, wenn man jüdisches Leben als selbstverständlich aufzeigt, damit auch gegen Antisemitismus anzugehen.
Antisemitismus hat es schon in allen Jahrhunderten gegeben. Wie steht es mit dem Antisemitismus heute? Wie erleben Sie das im Alltag?
Dr. Schuster: In meinem Alltag spielt er in Briefen, Mails oder über die sozialen Netzwerke eine Rolle.
Der Anteil der Menschen mit antijüdischen Ressentiments wird seit Jahren mit rund 20 Prozent eingeschätzt. Die Zahl hat sich nicht verändert, aber die Ausprägung. Das heißt, es werden heute Dinge gesagt, die man sich lange Zeit nicht getraut hatte zu sagen. Dazu gehören auch Äußerungen von führenden Politikern der AfD. Was dann die Folge ist: Aus Worten werden Taten. Und genau das haben wir beim Anschlag in Halle 2019 erleben müssen.
Hat sich die Einstellung der Deutschen zum jüdischen Leben verändert?
Dr. Schuster: Viele Menschen assoziieren mit Juden automatisch die Schoa, zugleich sind die Kenntnisse über diese Zeit gering. Wir brauchen ein deutlich umfassenderes Wissen über die deutsch-jüdische Geschichte in unserer Gesellschaft.
Was sollte sich ändern?
Dr. Schuster: Es wäre wünschenswert, dass die Mehrheitsgesellschaft die jüdische Gemeinschaft als selbstverständlichen Bestandteil der Gesellschaft sieht.
Müssen wir den Kindern und Jugendlichen in der Schule also mehr Aufklärung bieten?
Dr. Schuster: Definitiv. Kein Mensch wird als Antisemit geboren. Der Zentralrat der Juden ist in Zusammenarbeit mit der Kultusministerkonferenz gerade dabei, das Thema aufzuarbeiten und Empfehlungen für die Bekämpfung von Antisemitismus in der Schule zu formulieren. Zudem geht es darum, die Lehrmaterialien zu verbessern, um den Lehrkräften das Rüstzeug an die Hand zu geben, damit sie das Thema Judentum besser vermitteln können.
Was wünschen Sie sich für 2021?
Dr. Schuster: Ich wünsche mir, was sich jeder von uns wünscht: Dass wir bald wieder ein uneingeschränktes Leben ohne Pandemie und Corona-Gedanken führen können. Wenn uns das gelingt und die Beschränkungen weiter gelockert werden, wären wir ein gutes Stück weiter.
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