Heidelberg. Das Gesundheitswesen kann sich von der Industrie noch eine Menge abschauen, denn dort ist die Digitalisierung schon lange angekommen. Stichwort: Industrie 4.0. Die Medizin sei im Vergleich dazu eher eine Manufaktur, sagt Dr. Hannes Kenngott, Leiter der Stabstelle Medizinentwicklung, Innovationsmanagement und Digitalisierung am Universitätsklinikum Heidelberg. Kenngott führte in einem Vortrag bei einer Veranstaltung des „Forum Gesundheitsstandort BW“ in Heidelberg in das wichtige Thema ein. Denn sowohl Patienten als auch die Mitarbeitenden in dem Sektor können von der Digitalisierung profitieren. Kliniken, Pflegeheime oder Praxen stehen in der Hinsicht jedoch vor einer großen Herausforderung.
„Die Chancen der Digitalisierung sind groß. Doch das braucht Aufwand, eine Finanzierungsstrategie und Struktur“, sagt Kenngott im Gespräch mit dieser Redaktion am Rande der Veranstaltung. Er ist sich sicher: „Die Chancen überwiegen die Risiken.“ Dafür seien jedoch eine neue Kultur und neue Systeme nötig, „die am Patienten orientiert sind“. Denn der einzelne Patient stehe im Vordergrund. Der Anspruch sei dabei immer, die beste Medizin für den einzelnen Menschen bieten zu können.
Zwar schreitet die Digitalisierung im Gesundheitswesen voran. Doch die Umsetzung gestaltet sich schwierig. Dabei würden mit einem Wandel viele Möglichkeiten offenstehen. Der Patient könnte von einer individuellen Betreuung profitieren. Diagnosen würden frühzeitig erkannt, und die Behandlung wäre komplett auf ihn zugeschnitten. Unterstützung könnte das Klinikpersonal von vernetzter Medizintechnik und Softwareassistenten bekommen, was beispielsweise die Diagnostik erleichtern könnte. Doch im Moment sieht die klinische Realität in den Augen des Chirurgen Kenngott so aus: „Es ist alles im Kopf der Ärzte und Pflegenden. Wir stehen im Zentrum. Das müssen wir auch weiterhin. Aber die Informationen sind unglaublich groß und nehmen jederzeit zu. Auch die diagnostischen sowie therapeutischen Möglichkeiten nehmen zu“, was dem Patienten zugute kommen müsse.
Lebenslange Patienten-Begleitung
In Zukunft erwartet Kenngott eine „andere Qualität der Arzt-Patienten-Interaktion, auch, was digitale Unterstützungssysteme“ betreffe. Dafür brauche es ein neues Patienten- und Führungsleitbild. „Es wird immer interdisziplinärer“, erklärt Kenngott und sagt weiter: „Der Patient erwartet nicht nur eine Begleitung zu seiner einzelnen Erkrankung, sondern möchte eine lebenslange Begleitung. Nicht nur an einer Klinik, sondern vom Hausarzt zum Spezialisten.“
Für die Weiterentwicklung hin zur personalisierten Medizin müssten jedoch eine Menge sensible Daten von den Patientinnen gesammelt werden, die der Ärztin bei der Behandlung, aber auch der Forschung und Entwicklung sowie der Gesundheitsindustrie helfen könnten. Doch was das Sammeln von persönlichen Daten angeht, ist so mancher skeptisch. Schließlich erfordern diese einen besonderen Schutz. „Wir müssen den Menschen die Sorge nehmen, dass sie nicht mehr Herr über ihre eigenen Daten sind“, sagt Joachim Bader, Geschäftsführer der AOK Rhein-Neckar-Odenwald, beim Podiumsgespräch im Rahmen der Veranstaltung. Das habe viel mit Vertrauen zu tun, damit die Menschen dies annehmen würden. Das müsse vermittelt und in die Gesellschaft getragen werden, so Bader.
Roadmap
Dazu hat das „Forum Gesundheitsstandort BW“ für die zielgerichtete Nutzung der Gesundheitsdaten eine Roadmap herausgebracht, in der es darlegt, welche Maßnahmen bereits umgesetzt wurden und welche zukünftig angegangen werden.
Entlastung für Klinikpersonal
Die Digitalisierung kann nicht nur dem Patienten, sondern auch dem Klinikpersonal helfen. Wegzeiten und Prozesse könnten beispielsweise optimiert werden. Doch auch die Mitarbeitenden müssen einen Zugang zu dem Thema bekommen. Vor allem in der Ausbildung müsse ein verstärkter Fokus auf Informationstechnologie und Medizintechnik gelegt werden. Kenngott spricht von „lebenslangen Lernkonzepten“, die es benötige, da die digitale Welt stets im Wandel sei. Wichtig sei auch, dass die Digitalisierung den Menschen nicht ersetzt: „Was wir brauchen, sind kontextuelle, intelligente Lösungen, die uns als Assistenten unterstützen, die uns helfen, zu diagnostizieren und zu therapieren.“
Der Digitalisierungsprozess benötige jedoch Zeit. Zudem könne das nicht jede einzelne Einrichtung alleine stemmen. „Das geht nur in guten Partnerschaften“, betont Kenngott und verweist auf die „Heidelberg-Mannheim Health and Life Science Alliance“, einem Zusammenschluss von Einrichtungen, Stiftungen, Verbänden und Kommunen, die in der Region gebündelt an der Digitalisierung im Gesundheitswesen arbeiten. Auch die Unikliniken im Land würden im Rahmen der „4U-Initiative“ ihre Kompetenzen und Kräfte bündeln.
Das fehlende Geld macht die Umsetzung nicht einfacher. Im Vergleich zum Umfang der Aufgabe stünden nur geringe Mittel zur Verfügung, insbesondere bei der notwendigen Verstetigung, betont Kenngott. Altenpflegerin Ursel Wolfgramm schlägt in die gleiche Kerbe. Während in der Wirtschaft Überschüsse in Forschung und Entwicklung fließen könnten, sei das Gesundheitswesen finanziell auf Kante genäht, erklärt sie beim Podiumsgespräch.
Es gebe bereits smarte Unterwäsche, die erkenne, wann jemand auf die Toilette müsse, und Matratzen mit Sensoren, so dass sich der Patient nicht wund liege, erläutert die Altenpflegerin. Aber woher das nicht vorhandene Geld dafür nehmen: „Wir müssten das am Patienten einsparen“, so Wolfram. Dann jedoch würde am falschen Ende gespart. Denn wie sagt Kenngott? „Der Patient steht im Mittelpunkt. Nicht das Werkzeug.“
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