Oblast Charkiw. Die Betten im Krankenzimmer sind dicht aneinandergestellt. Das Fenster ist mit schwarzer Folie verklebt, es ist ein Schutz gegen Splitter, falls ein Geschoss in der Nähe einschlagen sollte. Die Folie dient auch der Verdunkelung. Sechs Soldaten liegen in dem Raum, manche haben Verbände um die Arme oder die Beine. An einer Garderobe hängen ihre Flecktarnjacken mit den Aufnähern ihrer Einheiten. An den Wänden kleben Kinderzeichnungen, Panzer sind darauf zu sehen und Raketen. Von der Decke baumeln Luftballons.
Die Luft ist stickig. Es riecht nach Schweiß, Desinfektionsmittel, Bohnerwachs, Essen. „Unsere wichtigste Aufgabe hier ist, die Männer mental zu stabilisieren, damit sie wieder an die Front gehen können“, sagt Oberstleutnant Viktor Pysanko. Der 35-Jährige ist der Leiter des Krankenhauses im Osten der Ukraine.
Vor dem Krankenhaus steht ein großer Bus, lackiert in Rot und Weiß, er ist zwölf Stunden zuvor an der ukrainischen Grenze gestartet. Es ist ein zur Ambulanz umgebauter Reisebus der norwegischen Hilfsorganisation „Team Humanity“, die seit dem Beginn des russischen Überfalls Menschen aus den umkämpften Gebieten im Süden und Osten herausholt. In dem Bus können Schwerverletzte transportiert werden. „Wir sind gebeten worden, verletzte Soldaten in ein Krankenhaus zu bringen“, erzählt Salam Aldeen, Leiter der Hilfsorganisation, der in Berlin lebt.
Aldeen ist ein rastloser, getriebener Mann mit einer rauen Stimme, der wenig Schlaf braucht. Etwa 14 000 Menschen haben sie bisher gerettet. Von der Grenze aus ist der Bus quer durch das Land gefahren. Odessa. Mykolajiw. Dnipro. Immer näher heran an die Front. Wo genau die Reise endet, wo das Krankenhaus liegt, das er schließlich erreicht, darf aus Sicherheitsgründen nicht geschrieben werden. 16 Stunden sind wir dort und können mit Ärzten und Patienten sprechen.
Die Kleinstadt ist etwa 90 Kilometer entfernt von der Front. Die heftigen Artilleriegefechte dort sind als konstantes Wummern zu hören. Das Krankenhaus ist ein vierstöckiges weiß-graues Backsteingebäude, gebaut in den Siebzigern. Vor der Klinik stehen zivile Ambulanzwagen und alte dunkelgrüne Laster des Militärs mit einem Kreuz darauf. Auch sie bringen Verletzte hierher.
Es wird nicht viel gelacht
Vor dem Krankenhaus stehen Männer und rauchen. Die meisten tragen Uniformjacken, darunter Jogginghosen, Pullover, Schlappen. Manche reden mit sich selbst, andere reden miteinander. Alle wirken müde. Es wird nicht viel gelacht. Drinnen herrscht geschäftiges Gewusel. In den Gängen stapeln sich Matratzen, Decken und Kleidung, es sind Spenden der lokalen Bevölkerung. In einem Raum liegen kreuz und quer Krücken und Rollstühle. „Wir sind hier nach den Feldlazaretten die zweite Linie der medizinischen Versorgung“, erklärt Viktor Pysanko, der Leiter des Krankenhauses.
Kinder malen den Soldaten Bilder
Mit ihm sind hier vier weitere Offiziere stationiert, die anderen Pfleger und Ärzte haben schon vorher hier gearbeitet oder sind Freiwillige. Bis vor einem Monat war es eine zivile Einrichtung. Jetzt liegen hier nur verwundete Soldaten, 200 sind es heute. Pysanko sagt, er habe das Krankenhaus in Eigenregie auf den Kriegsbetrieb umgestellt, finanziert wird das aus privaten Spenden.
„Mir ist es wichtig, die Gemeinde in die Betreuung der Verletzten einzubinden. Dieser Krieg ist ein Krieg der Nation“, sagt der Offizier, der früher für die Vereinten Nationen im Kongo als Arzt gearbeitet und bei den ukrainischen Luftlandetruppen gekämpft hat. In das Krankenhaus kommen Kinder, Kirchenvertreter oder Sänger. Die einen, um die Männer aufzuheitern, die anderen, um ihnen geistigen Beistand zu geben. Die Kinder kommen und malen den Soldaten Bilder oder schreiben ihnen Briefe, „damit die Männer wissen, wofür sie kämpfen“, erzählt Pysanko. „Wir kämpfen für unsere Freiheit und die Zukunft dieser Kinder.“
Im ersten Stock sitzt Lubow an ihrem Platz. Sie ist 64 und arbeitet schon seit fast 40 Jahren als Krankenschwester in dem Haus. Ihren Nachnamen will sie nicht nennen. Die kleine Frau mit den schwarz gefärbten Haaren dokumentiert in einer Kladde handschriftlich die Namen der Neuankömmlinge, misst ihren Blutdruck und Temperatur. „Ich weiß, sie schützen unsere Heimat“, sagt sie. „Aber ich finde es schlimm, wenn sie wieder an die Front zurückmüssen.“
In dem Krankenhaus landen nur Soldaten, die nicht schwerstverletzt sind. Sie behandeln hier Schusswunden, Schrapnell-Verletzungen, Erfrierungen, Männer, die sich bei Unfällen Arme oder Beine gebrochen haben. Allein hier haben sie bereits etwa tausend Männer versorgt.
Am nächsten Morgen kommt ein Bus an, ursprünglich weiß, jetzt voller grauer und brauner Schlieren, die Fenster sind blind vor Staub. Soldaten steigen aus, viele hinken, manche müssen gestützt werden. Sie kommen gerade von der Front bei der seit Monaten heftig umkämpften Stadt Bachmut. Ihre Augen starren ins Leere. Kaum einer sagt etwas. Sie steigen in den Bus von „Team Humanity“ um, der sie in ein anderes Krankenhaus in der Nähe bringt. Hier ist kein Platz mehr für sie.
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