Berlin. Vier Soldaten stehen vor einem Verwaltungsgebäude, vor ihnen auf dem Boden liegt eine russische Flagge, sie halten stolz eine Fahne in den ukrainischen Farben in die Kamera. Die vier Männer gehören zur 92. mechanisierten Brigade der ukrainischen Streitkräfte. Das Foto ist in Kupjansk aufgenommen worden, eine Kleinstadt im Osten der Region Charkiw, die direkt nach dem russischen Überfall im Februar besetzt worden war.
Das Bild, das nun am Wochenende vom ukrainischen Inlandsgeheimdienst SBU veröffentlicht wurde, ist ein Ausweis des Erfolgs einer Gegenoffensive, die die russischen Streitkräfte offenbar völlig überfordert. Die russische Front ist in Auflösung begriffen. In den vergangenen Tagen haben die ukrainischen Streitkräfte in der Region östlich von Charkiw, der zweitgrößten Stadt des Landes, enorme Geländegewinne erzielt. Laut ukrainischen Angaben, die von russischer Seite nicht bestritten werden, konnte ein Gebiet von der Größe des Saarlands zurückerobert werden.
Das russische Verteidigungsministerium verkündete am Samstag, man habe „eine Operation zum Abzug und zur Verlegung der in Isjum und Balaklija stationierten Truppen auf das Territorium der Volksrepublik Donezk abgeschlossen“.
Was nach einem taktischen Manöver klingen soll, ist nichts anderes als das Eingeständnis einer verheerenden Niederlage, die den Verlauf des Krieges ändern könnte.
Die Kleinstadt Isjum, etwa 100 Kilometer südlich von Charkiw, war Ende März nach erbitterten Kämpfen von den russischen Streitkräften besetzt worden. Die russischen Offensivplane sahen vor, von dort und von der Kleinstadt Balaklija aus die ukrainischen Truppen in der Region in die Zange zu nehmen und so die letzten unter ukrainischer Kontrolle verbliebenen Städte in der Oblast Donezk einzunehmen. Jetzt muss das russische Oberkommando diese Pläne begraben.
Bedeutende Rückeroberungen
Noch bedeutsamer als die Rückeroberung von Isjum und Balaklija ist jedoch die zumindest teilweise Befreiung von Kupjansk. Die Kleinstadt, in der vor der russischen Invasion etwa 30 000 Menschen lebten, ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Durch die Stadt verläuft eine wichtige Eisenbahnstrecke in die russische Garnisonsstadt Belgorod, über die in den vergangenen Monaten ein Großteil des russischen Nachschubs in die Ukraine kam und auf drei weiteren Strecken Richtung Westen, Süden und Südosten verteilt wurde. Diese Nachschublinien sind für die russischen Streitkräfte nicht mehr nutzbar. Zumindest der westliche Teil von Kupjansk ist wieder unter ukrainischer Kontrolle.
Die amerikanische Militärdenkfabrik ISW meldet zudem einen weiteren psychologisch wichtigen Erfolg der ukrainischen Streitkräfte: Diese hätten bei ihrer Gegenoffensive das Dorf Bilohoriwka eingenommen, wodurch die Oblast Luhansk nicht mehr vollständig unter russischer Kontrolle sei. Am Sonntag standen die ukrainischen Streitkräfte außerdem nur noch wenige Kilometer entfernt von den Zwillingsstädten Lyssytschansk und Sjewjerodonezk, die im Juni und Juli von den russischen Streitkräften erobert und größtenteils zerstört worden waren.
Für die russischen Streitkräfte hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi nur Spott übrig: „In diesen Tagen zeigt die russische Armee ihre beste Seite – ihren Rücken. Letztendlich ist es eine gute Entscheidung für sie wegzurennen.“
Westliche Militärexperten waren davon ausgegangen, dass die Ukrainer Ende August mit der Verkündigung der Gegenoffensive im Süden lediglich den Druck auf die Front bei Bachmut, Slowjansk und Kramatorsk in der Oblast Donezk vermindern wollten – mit einer so großen und erfolgreichen Gegenoffensive im Donbass hatte kein Beobachter gerechnet. Eines zeichne sich klar ab: „Ich glaube, der Feind gerät in Panik“, sagte ein ukrainischer Offizier dem „Spiegel“. Wie nachhaltig die aktuellen militärischen Erfolge der ukrainischen Streitkräfte sind und ob die Gegenoffensiven eine entscheidende Wende im Krieg darstellen, ist nicht klar. Vieles hängt davon ab, ob es den russischen Streitkräften gelingt, sich zu reorganisieren und die Fronten zu stabilisieren. Jedoch wird die Kritik russischer Militärexperten an der militärischen Führung immer lauter.
Putin gibt sich bedeckt
Heftige Kritik wird auch an der Informationspolitik des Kreml geübt. Präsident Wladimir Putin gibt sich bedeckt, das russische Verteidigungsministerium verschweigt die katastrophalen Gebietsverluste und hebt stattdessen angebliche Erfolge hervor. So hieß es am Sonntag auf dem Telegram-Kanal des Verteidigungsministeriums, man habe im Raum Charkiw 200 ukrainische Soldaten getötet. In nationalistischen russischen Kreisen, die am stärksten für den Krieg getrommelt haben, verfängt das jedoch nicht mehr.
So warnte der ehemalige Geheimdienstoffizier Igor Girkin auf Telegram vor einer „vollständigen Niederlage Russlands“. Eigentlich, so Girkin, der unter dem Decknamen „Strelkow“ 2014 den prorussischen Separatistenaufstand im Donbass anführte, „haben wir bereits verloren. Der Rest ist nur eine Frage der Zeit.“
URL dieses Artikels:
https://www.fnweb.de/politik_artikel,-politik-ich-glaube-der-feind-geraet-in-panik-_arid,1994629.html