Frieden ist noch weit

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Jan Jessen
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Millionen Menschen in der Ukraine steht ein kalter und brutaler Winter bevor. Die Angriffe der russischen Armee auf die Energie-Infrastruktur des Landes haben bleibende Schäden hinterlassen. In der Hauptstadt Kiew müssen ganze Stadtteile immer wieder stundenweise vom Netz genommen werden, weil es ansonsten überlastet ist. Im befreiten Cherson im Süden des Landes ist die Stromversorgung wieder kollabiert, nachdem die Behörden die Stadt kurzfristig ans Netz bekommen hatten.

In Großstädten wie Odessa, Charkiw, Mykolajiw, Winnyzja oder Lwiw warten die Menschen auf den nächsten russischen Luftangriff, der sie wieder in die Dunkelheit bombt. Gas und Wasser fließen ebenfalls in vielen Regionen nicht. Die Ukraine ist deshalb dringend auf Hilfe angewiesen. Die Behörden brauchen Transformatoren und Generatoren zur Stromerzeugung, die Menschen brauchen Solarbatterien, Powerbanks, wärmende Decken und Kleidung. In den monatelang besetzten oder umkämpften Kleinstädten im Süden und Osten des Landes ist Aufbauhilfe dringend nötig, dort müssen zudem Zehntausende Blindgänger und Minen geräumt werden, die lebensbedrohlich für alle diejenigen sind, die wieder nach Hause zurückkehren.

Der Krieg, den Russland angeblich zur Befreiung der Ukrainer vom Joch einer „Nazi-Regierung“ führt, ist längst zu einem Terrorkrieg gegen die Bevölkerung geworden. Der Beschuss von Wohngebieten in Cherson zwingt derzeit Tausende zur Flucht aus der Stadt, aus der sich die russischen Streitkräfte am 11. November zurückgezogen haben.

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Es hat den Anschein, als wollte sich Moskau rächen; für den Widerstand der Ukrainer, für ihren Jubel in den befreiten Regionen und für die schmählichen Niederlagen, die die russischen Truppen erleiden mussten. Es spricht für den Zynismus von Kremlchef Putin, dass ausgerechnet die Städte und Dörfer im russischsprachigen Teil der Ukraine zu Ruinenlandschaften zerbombt worden sind. „Putin hat uns befreit. Von unseren Häusern, von unseren Straßen, von unseren Arbeitsplätzen, von unseren Angehörigen“, heißt es dort häufig bitter-sarkastisch.

Die Kampfhandlungen werden auch in den Wintermonaten weitergehen, wahrscheinlich erbitterter als derzeit. Im Herbst sind die Böden im Osten und im Süden matschig. Haubitzen und Artilleriegeschütze, Panzer und gepanzerte Truppentransporter sind weniger mobil. Das wird sich ändern, wenn der Boden gefriert. Jedoch sieht es so aus, dass die Ukrainer – auch dank westlicher Unterstützung – besser gerüstet sind, angefangen von der Winterbekleidung für ihre Soldaten.

Zudem leeren sich die Geschoss-Arsenale der russischen Streitkräfte zusehends, auch weil sie im Raum Bachmut im Osten der Ukraine derzeit ungeheuerliche Mengen verbrauchen, um die ukrainischen Verteidigungslinien aufzubrechen. Im Süden haben sich die russischen Streitkräfte ihrerseits am linken Ufer des Dnipro eingegraben, was für Cherson bedeuten würde, dass die befreite Stadt noch länger unter dem Beschuss leiden muss.

Von einem Waffenstillstand, gar einem Friedensschluss, scheint die Ukraine noch weit entfernt zu sein. Die Ukrainer scheinen überzeugt davon zu sein, die russischen Invasoren noch weiter zurückdrängen zu können. Wladimir Putin kann sein Gesicht nicht verlieren. Die Wut der russischen Hardliner könnte ihn sonst stürzen.