Brüssel. Es ist die spannendste Personalentscheidung an der Spitze der Europäischen Union: Ein Gipfel der Staats- und Regierungschefs am Donnerstag macht die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas zur neuen EU-Außenbeauftragten. Sechs Fakten zur Politikerin, die man kennen sollte.
Ein Leben unter russischer Bedrohung
Kallas hat sich nie Illusionen über Russland gemacht. Ihre Mutter und Großmutter wurden 1949 für zehn Jahre nach Sibirien deportiert, ein Gräuel, das Sowjet-Diktator Josef Stalin an 75.000 Esten verübte. Kallas Mutter Kristi war sechs Monate alt, sie überlebte den Transport im Viehwagen nur, weil ein Soldat der Großmutter Milch gab.
„Meine Familiengeschichte steht stellvertretend für das, was viele Esten erlebt haben“, sagt Kallas. Sie wächst unter sowjetischer Besatzung auf. 1988 besucht die elfjährige Kaja mit ihren Eltern Ost-Berlin. An der Grenze vor dem Brandenburger Tor sagt ihr Vater: „Atme tief ein. Das ist die Luft der Freiheit, die von der anderen Seite kommt.“ Ein Jahr später fällt der Eiserne Vorhang, Estland wird unabhängig. Doch die Esten trauen den Russen nicht: „Wir haben immer gewusst, dass Russland gefährlich, eine Bedrohung für uns ist“, sagt Kallas.
Putin sucht Kaja Kallas per Haftbefehl
Russlands Präsident Wladimir Putin lässt seit Februar mit Haftbefehl nach Kallas fahnden. Begründung: Angeblich feindselige Handlungen gegen Russland und „Schändung des historischen Gedächtnisses“ – Kallas hatte Denkmäler für Sowjetsoldaten abreißen lassen. Sie ist die erste westliche Top-Politikerin auf Russlands Fahndungsliste. Einige wenige Länder kann sie wohl nicht bereisen, ohne ihre Festnahme zu riskieren. Neben Russland dürften Belarus, Nordkorea und der Iran dazu zählen. Der Haftbefehl sei eine „Ehrenmedaille“, sagt Kallas, sie werde sich von Putin nicht einschüchtern lassen.
Chefdiplomatin aus einer Politiker-Dynastie
Ihr Großvater Eduard war einer der Gründerväter der Republik Estland 1918. Der Vater Slim Kallas gründete 1994 die liberale Estnische Reformpartei, war zehn Jahre Parteichef, wurde Minister, Ministerpräsident und war ab 2004 ein Jahrzehnt EU-Kommissar.
Tochter Kallas arbeitete nach dem Jura-Studium in Tartu erst als Rechtsanwältin, mit 33 Jahren startete sie ihre politische Karriere: Sie trat in die Reformpartei ihres Vaters ein, wurde ein Jahr später ins nationale Parlament gewählt. 2014 wechselte Kallas für vier Jahre als Abgeordnete ins EU-Parlament. Zurück in der estnischen Politik, wurde sie 2021 erste Ministerpräsidentin Estlands. Dass die EU-Regierungschefs sie jetzt nach Brüssel holen, kommt Kallas wohl nicht ungelegen: Sie hat an Popularität eingebüßt, zwei Drittel der Esten sind laut Umfragen mit ihrer Arbeit unzufrieden. Bei der Europawahl stürzte ihre Partei ab.
Eine starke Anwältin für die Ukraine
Seit Beginn des Ukraine-Kriegs hat sich Kallas in der EU massiv für eine bedingungslose Unterstützung der Ukraine und für stärkere Verteidigungsanstrengungen Europas eingesetzt. Sie schlug gemeinsame Munitionskäufe vor und setzte sich damit durch, sie plädiert auch für Gemeinschaftsschulden zur Finanzierung der Verteidigungskosten. Frieden zu russischen Bedingungen sei gleichbedeutend mit massenhaften Gräueltaten und Unterdrückung, warnt Kallas. „Die Ukraine muss gewinnen, Russland muss vertrieben werden, und der russische Aggressor und die Kriegsverbrecher müssen vor Gericht gestellt werden“, fordert die Estin. Gemessen an der Wirtschaftsleistung unterstützt kein Land die Ukraine stärker als Estland mit seinen 1,4 Millionen Einwohnern. Die estnischen Verteidigungsausgaben liegen bei 3,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), noch vor den USA. Kallas war vor diesem Hintergrund auch als Nato-Generalsekretärin im Gespräch.
Privat hat sie Ärger wegen ihres Ehemanns
Kallas ist seit 2018 mit dem estnischen Investment-Banker Arvo Hallik verheiratet. Es ist ihre zweite Ehe, die erste wurde geschieden, als sie 28 Jahre alt war. Später war sie mit dem estnischen Ex-Finanzminister Taavi Veskimägi liiert, beide haben einen gemeinsamen Sohn. Ihr Ehemann Arvo Hallik brachte zwei Kinder mit in die Ehe. In die Schlagzeilen geriet die Ehe voriges Jahr, als bekannt wurde, dass Hallik an einem Logistikunternehmen beteiligt war, das nach dem russischen Überfall auf die Ukraine weiter Güter nach Russland lieferte. Kallas versicherte, sie habe nichts von den Geschäften ihres Mannes gewusst.
Mit von der Leyen nicht nur harmonisch
Kallas drängt die EU-Staaten, mehr Geld für die Ukraine bereitzustellen und ihre jährlichen Ausgaben für Verteidigung auf drei Prozent des BIP zu erhöhen. Kanzler Olaf Scholz versteht sich zwar gut mit Kallas – im politischen Alltag könnte es aber schnell Konflikte geben.
Noch mehr Reibungspunkte sind mit Ursula von der Leyen zu erwarten. Die Kommissionschefin zieht außenpolitische Themen, vor allem mit Ukraine-Bezug, gern allein an sich. Die ehrgeizige und machtbewusste Kallas dürfte sich aber kaum so leicht die Butter vom Brot nehmen lassen.
URL dieses Artikels:
https://www.fnweb.de/politik_artikel,-politik-eine-kampfansage-an-putin-_arid,2220189.html