Bildung

„Ich fühle mich wie der Trottel“

Kein Land entlässt im Sommer so viele Lehrer wie Baden-Württemberg – Oriana Stock ist eine davon

Von 
Carola Fuchs
Lesedauer: 
Oriana Stock arbeitet im Sonderpädagogischen Bereich – gerade hier herrscht nach ihren Worten akuter Lehrermangel. © oriana Stock

Stuttgart. Der letzte Schultag ist für Oriana Stock der Beginn ihrer Arbeitslosigkeit – mal wieder. Die Lehrerin hat seit Jahren einen befristeten Vertrag, obwohl sie an einem Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrum arbeitet, wo der Lehrermangel besonders groß ist. „Das macht mich wütend“, sagt sie im Interview.

Frau Stock, haben Sie schon einen Termin bei der Arbeitsagentur?

Oriana Stock: Ich werde mich hoffentlich telefonisch arbeitslos melden können. Das ist alljährlich das gleiche leidige Prozedere, die kennen einen ja schon.

Warum ist Ihr Vertrag befristet?

Stock: Weil ich ein sogenannter Nicht-Erfüller bin: Ich habe „nur“ das erste Staatsexamen abgeschlossen, mir fehlt also das Referendariat zur perfekten Lehrerin. Ich habe geheiratet, vier Kinder bekommen und eines adoptiert. Eigentlich habe ich seinerzeit nicht damit gerechnet, dass ich wieder arbeite. Aber die Kinder sind längst alle aus dem Haus, und die Arbeit mit Kindern begeistert mich so, dass ich eben doch angefangen habe zu unterrichten.

Wann war das?

Stock: Vor zwölf Jahren, damals noch in Brandenburg. Wir waren 1998 dorthin gezogen und haben dort einen Kindergarten gegründet. Daraus entstand eine Elterninitiative zur Gründung einer Privatschule: Die habe ich sechs Jahre lang als stellvertretende Schulleiterin mit aufgebaut und geleitet und wurde vom Land auch anerkannt als Lehrerin. Dann sind wir umgezogen.

In Baden-Württemberg fehlt Ihnen die Anerkennung?

Stock: Eigentlich braucht es die gar nicht, denn ich bin seit drei Jahren vom Land an einem Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrum (SBBZ) angestellt, allerdings mit immer neuen Zehnmonatsverträgen. Erst war ich in Calmbach, dann in Königsbach. Wo ich nach den Ferien eingesetzt werde, weiß ich noch nicht mit Sicherheit. Ich hoffe wieder in Königsbach, ich will ja den Kindern Verlässlichkeit bieten.

Wann kommt Ihr neuer Vertrag?

Stock: Das weiß ich nicht. In diesem Schuljahr hatte ich am ersten Schultag noch nicht einmal einen Arbeitsvertrag. Ich war trotzdem auf den Lehrerkonferenzen, habe trotzdem angefangen zu unterrichten, ich kann ja meine Klasse und meine Kollegen nicht im Stich lassen. Das Ergebnis: Ich habe zehn Tage unbezahlt gearbeitet – es hieß vom Regierungspräsidium dazu, ich sei selber schuld. Es geht nur nach Recht und Papier und Geld, aber niemals ums Kind.

Habe Sie Entfristung beantragt?

Stock: Ja. Ich habe am 22. Dezember 2021 einen Antrag gestellt – danach aber bis heute nichts gehört. Ich habe nicht mal eine Eingangsbestätigung bekommen.

Haben Sie schon überlegt zu klagen?

Stock: Da haben Sie leider keine Chance. Kettenverträge sind zwar unzulässig. Aber ich bin immer als Krankheitsvertretung eingestellt, eine Klage wäre aussichtslos, sagt die Gewerkschaft. Aber dann schreiben der Ministerpräsident Winfried Kretschmann und die Ministerin Theresia Schopper uns Lehrern einen Brief, wir mögen doch bitte mehr und länger arbeiten. Das will ich ja!

Der Brief hat Sie geärgert?

Stock: Gerade an den SBBZ im Land herrscht akuter Lehrermangel, auch an unserer Schule. Ich arbeite Vollzeit, habe hervorragende Beurteilungen, bin superflexibel, habe keine Kinder mehr im Haus, werde garantiert nicht mehr schwanger, bin sehr erfahren und kann mir sehr gut vorstellen, auch über das offizielle Rentenalter hinaus zu arbeiten. Aber dazu muss man mich doch erst einmal richtig anstellen!

Haben Sie das dem Ministerpräsidenten und der Ministerin auch gesagt?

Stock: Das habe ich. Ich habe beide angemailt und, das muss ich sagen, vom Büro des Ministerpräsidenten auch wirklich schnell eine Antwort bekommen.

Was stand drin?

Stock: Man hoffe, dass ich möglichst bald eine Antwort der Schulverwaltung erhalte, die mir eine positive Perspektive aufzeige. Nur einen Werktag später hat mich meine Schulleiterin aus dem Unterricht geholt, das Schulamt wolle mich dringend am Telefon sprechen. Da bekam ich tatsächlich zwei entfristete Stellen angeboten, eine in Bad Teinach und eine in Pforzheim. Ich müsste mich aber gleich entscheiden, jetzt sofort, am Telefon!

Das haben Sie aber nicht getan?

Stock: Natürlich nicht, ich war völlig perplex. Ich kenne die Schulen und das Kollegium nicht, ich wusste nicht, was für einen Vertrag ich bekäme, wie viel ich verdienen würde, nichts. Irgendwo muss ich ja auch als Mensch bleiben. Man kann sich doch nicht innerhalb von einer Minute entscheiden. Dann habe ich zwei Stunden Bedenkzeit gefordert. Was ist denn das für eine Art! Erst hört man ein halbes Jahr gar nichts, dann bekommt man die Pistole auf die Brust.

Was haben Sie dann gemacht?

Stock: Ich bin nach Hause gefahren und habe eine Mail geschrieben, dass ich erst einmal die Rahmenbedingungen geklärt haben möchte. Dann habe ich ein paar Tage Bedenkzeit bekommen, ich konnte mit einer Schulleitung sprechen, das hörte sich alles gut an. Aber ich wäre wahrscheinlich an zwei unterschiedlichen Standorten eingesetzt worden und vor allem: als „Fachlehrer“. Als Klassenlehrerin verdiene ich E 11. Als Fachlehrerin hätte ich E 8 bekommen.

Und wie geht es Ihnen jetzt?

Stock: Ich fühle mich wie der Trottel, der immer hin- und hergeschoben wird. Das macht mich wütend. Aber das hilft mir ja nix, wenn ich mich aufrege, ist das negative Energie. Ich will meine Arbeit für die Kinder und mit den Kindern gut machen, und das tue ich. Wie gut ich arbeite, das interessiert im Regierungspräsidium offenbar alles nicht. Man braucht zwar Lehrer, aber offenbar nicht solche wie mich, die Erfahrung haben.

Erfahrene Pädagogin

Oriana Stock (62) hat ihr erstes Staatsexamen 1986 in Freiburg abgelegt.

Sie wohnt in Remchingen (Enzkreis) und arbeitet im Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrum (SBBZ) in Königsbach-Stein.

In diesem Sommer laufen mehr als 4000 befristete Lehrerverträge Ende Juli aus.

Wie aus einer Antwort des Kultusministeriums auf eine Anfrage der SPD-Fraktion hervorgeht, spart das Land durch die während der Ferien nicht ausbezahlten Gehälter 15 Millionen Euro. cls

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen