Barrierefreiheit - Für Rollstuhlfahrer und Menschen mit Gehbehinderung gibt es immer noch zu viele Hindernisse im Alltag

Der zähe Weg zur Teilhabe

Von 
Anika von Greve-Dierfeld
Lesedauer: 
Dunja Reichert fährt im SRH Klinikum Karlsbad-Langensteinbach in einem Rollstuhl-Parcours eine Treppe hinunter. © dpa

Karlsbad. Ein Schotterbett, buckliges Kopfsteinpflaster, eine steile und eine etwas flachere Rampe, Stufen, ein Stück Straßenbahnschienen und Gitterbeton. Letzteres ist ein No-Go für Andreas Brandl und auch die Rampe kann er momentan nur mit Mühe bewältigen. Gerade mal ein paar Wochen erst sitzt der 55-Jährige querschnittsgelähmt im Rollstuhl, in den ihn ein Motorradunfall Mitte Juli zwang. Auf dem „Rolli-Parcours“ des SRH-Klinikums in Karlsbad-Langensteinbach (Kreis Karlsruhe) übt er nun, was künftig Alltag sein wird: Fortbewegung ohne die Hilfe seiner Beine, Fortbewegung im Rollstuhl. Und das wird schwer werden – egal wie gut Brandl einmal mit seinem Rolli zurechtkommt.

Denn trotz einiger Fortschritte ist es mit der Barrierefreiheit in Deutschland und im Südwesten aus Sicht von Menschen mit Behinderung und von Sozialverbänden nicht weit her. „Da ist noch megaviel Luft nach oben“, sagt zum Beispiel Dunja Reichert, die seit 1997 wegen einer Rückenmarksentzündung nach einem Zeckenbiss im Rollstuhl sitzt. Der vor zwei Jahren angelegte Parcours in Karlsbad sei zwar eine wunderbare Möglichkeit, sich im Umgang mit dem Rollstuhl zu üben, sagt die 41-Jährige. Gleichzeitig seien die Bedingungen dort nur ein kleiner Vorgeschmack dessen, was frisch Betroffenen wie Brandl bevorsteht, sobald sie aus den oft monatelangen Aufenthalten in Klinik und Reha in ihr Leben zurückkehren.

Landesaktionsplan unter der Lupe

„Wir sind weit entfernt von einer barrierefreien Gesellschaft“, kritisiert Sabine Goetz, Geschäftsführerin des Landesverbandes Selbsthilfe Körperbehinderter Menschen (LSK). „Toilette, Gaststätte, Kino, Arztpraxen, Bahnhöfe, öffentlicher Nahverkehr ...“, die Liste ist endlos. Verweise darauf, dass die Zahl der auf den Rollstuhl Angewiesenen klein sei im Vergleich zur Gesamtbevölkerung hierzulande – laut Sozialministerium könnten es etwa 40 000 Menschen sein, exakte Zahlen gebe es nicht – seien kurzsichtig: „Wir müssen doch nur auf die demografische Entwicklung schauen! Dann wissen wir, dass Barrierefreiheit sein muss in unserer Gesellschaft.“

Mehr zum Thema

Nahverkehr

Was kommt nach dem 9-Euro-Ticket?

Veröffentlicht
Von
Christian Unger und Jochen Gaugele
Mehr erfahren

Generell stehe der Südwesten gut da, meint das Sozialministerium – „aber das heißt nicht, dass es nichts zu verbessern gibt“. Im kommenden Jahr solle ein Landeskompetenzzentrum für Barrierefreiheit errichtet werden. Auch werde derzeit der Landesaktionsplan unter die Lupe genommen. Dieser war erarbeitet worden, nachdem Deutschland sich dazu verpflichtet hatte, die UN-Konvention zur Teilhabe von Menschen mit Behinderung umzusetzen. Jutta Pagel-Steidl, Geschäftsführerin des Landesverbandes für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung (LVKM), gerät bei dem Stichwort etwas in Rage. „Jedes Mal müssen Menschen erklären, warum sie Teilhabe wollen“, sagt sie. Ein Beispiel sei die angestrebte Barrierefreiheit im öffentlichen Nahverkehr. „Davon sind wir meilenweit entfernt im Land.“ Das Verkehrsministerium entgegnet, im ÖPNV sei schon viel erreicht worden. „Und doch müssen wir feststellen: Es gibt noch viel zu tun, um die vielen Fahrzeuge, Haltestellen und Bahnhöfe umzubauen, die noch nicht barrierefrei sind“, sagt auch Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne). Das Land unterstütze die Kommunen dabei.

Auch mit dem Bauen ist es so eine Sache. Nach Einschätzung Betroffener gibt es viel zu viele Ausnahmen und sogenannte „Kann“-Regeln. Und das, obwohl die Landesbauordnung laut Wohnungsbauministerium für Museen, Schwimmbäder oder Behörden eine „Pflicht zur umfassenden Barrierefreiheit“ vorsieht. Schildbürgerstreiche gibt es nach Worten Pagel-Steidls zuhauf: Barrierefreie Räume, dafür das Klo im Untergeschoss. Knöpfe im Lift, die zwar niedrig angebracht sind, aber so in der Ecke, dass ein im Rollstuhl sitzender Mensch nicht drankommt.

Inzwischen sind laut Goetz im Südwesten rund 20 Botschafter für Barrierefreiheit unterwegs. „Es sollen noch viel mehr werden, wenn das Projekt vom Sozialministerium weiter finanziert wird.“ Sie sensibilisieren, beraten, stehen Kommunen zur Seite. Verkehrsminister Hermann hat diesbezüglich auch gleich eine Botschaft in Richtung Berlin: „Eine neue Bundesregierung muss Barrierefreiheit mit deutlich mehr Engagement verfolgen als die alte!“

Es stimmt schon, dass inzwischen viel mehr über das Thema gesprochen wird als früher, das sieht Dunja Reichert durchaus. „Aber die Probleme tagtäglich sind vielfach gleichgeblieben.“ Mit einer Rampe höre für viele Menschen die Inklusion, die Teilhabe von Menschen am gesellschaftlichen Leben, schon auf. Dabei fange sie da gerade erst an. 

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen