Bürger nur begrenzt beunruhigt

In der Flüchtlingspolitik wird die Arbeit der Landesregierung kritisch beurteilt. Für die Geflüchteten aus der Ukraine gibt es dagegen viel Verständnis. Eine große Mehrheit der Menschen in Baden-Württemberg spricht sich dafür aus, in den kommenden Monaten

Lesedauer: 
Der aktuelle BaWü-Check macht an vielen Stellen deutlich, dass die Bürgerinnen und Bürger vollkommen anders als 2015 auf die derzeitige Flüchtlingswelle reagieren. © Carsten Koall/dpa

Sorgen und Skepsis: ja – Panik: nein. So lässt sich laut dem aktuellen BaWü-Check die Stimmungslage der Menschen in Baden-Württemberg zum Ende des Jahres 2022 wohl am ehesten beschreiben. In einer repräsentativen Meinungsumfrage, die das Institut für Demoskopie Allensbach im Auftrag der baden-württembergischen Tageszeitungen durchgeführt hat, wird deutlich, dass die Bevölkerung vollkommen anders auf die aktuelle Flüchtlingswelle reagiert als in den Jahren 2015 und 2016.

Wenn man Städten und Gemeinden glaubt, dann sind die Kapazitäten für die Betreuung der Flüchtlinge in den meisten Kommunen schon seit Wochen nahezu ausgeschöpft – und auch bei der Unterbringung gibt es bereits erhebliche Engpässe. Sprechen die Verantwortlichen von einer Ausnahmesituation, so sieht die Hälfte der Bevölkerung nach wie vor zumindest einen begrenzten Spielraum für weitere Unterbringungen: 13 Prozent sind sogar überzeugt, dass bei ihnen in der näheren Umgebung ohne Weiteres mehr Flüchtlinge aufgenommen werden könnten. Weitere 37 Prozent sehen noch begrenzten Spielraum. Etwas mehr als 25 Prozent haben den Eindruck, die Aufnahmekapazität sei erschöpft.

Ein wesentlicher Unterschied zur Flüchtlingswelle 2015/16 ist, dass damals vor allem junge Männer in die EU und dann weiter nach Deutschland gekommen sind. Dieses Mal sind es vor allem Frauen mit Kindern, die die Ukraine verlassen konnten und auch durften. Auf der einen Seite führt das dazu, dass die Flüchtlinge im öffentlichen Raum kaum wahrgenommen werden. An anderer Stelle, in den Schulen des Landes, bereitet diese Tatsache aber erhebliche Probleme. Weit mehr als 20 000 Kinder im schulpflichtigen Alter bereits sind seit Kriegsbeginn nach Baden-Württemberg eingereist – und müssen nun integriert werden.

Mehr zum Thema

Migration

Versprechungen und Symbolik bei „Flüchtlingsgipfel“

Veröffentlicht
Von
Martin Oversohl
Mehr erfahren

Das sehen auch die Befragten des BaWü-Checks so. Lediglich sechs Prozent der Bevölkerung sind überzeugt, dass die Schulen die gewaltige Integrationsaufgabe ohne Weiteres bewältigen können. 42 Prozent glauben, dass dies den Schulen nur mit Schwierigkeiten gelingen wird. Sogar nahezu die Hälfte der Befragten – 48 Prozent – spricht von einer völligen Überforderung.

Die Masse der Flüchtlinge sorgt unterdessen dafür, dass immer mehr Gemeinden erneut dazu übergehen, Turnhallen und andere Säle zu Notunterkünften umzubauen. Das wird in der Politik heftig diskutiert, bei vielen Menschen ist das in der ersten Flüchtlingskrise ausgesprochen heikle Thema noch nicht angekommen. Lediglich 13 Prozent der Bevölkerung berichten, ihnen wären zu Notunterkünften umgewidmete Turnhallen in ihrem Ort bekannt, weitere 15 Prozent, dass darüber diskutiert werde.

Integrationschancen gut bewertet

Die große Mehrheit spricht sich dafür aus, auch in den nächsten Monaten weitere Flüchtlinge aus der Ukraine aufzunehmen. Insgesamt vertreten 73 Prozent der Bevölkerung diese Position, wobei sich jedoch ein Teil für eine Kontingentierung ausspricht: 39 Prozent votieren dafür, nur noch eine bestimmte Anzahl an Flüchtlingen zu versorgen, während sich 34 Prozent dafür einsetzen, auch weiterhin so unbürokratisch wie möglich zu helfen. Lediglich 18 Prozent möchten nur noch sehr wenige oder gar keine Flüchtlinge mehr aufnehmen.

Glaubt man den Umfragewerten, ist jeder Dritte grundsätzlich bereit, Flüchtlinge aus der Ukraine bei sich zu Hause aufzunehmen – wenn es von der Wohnsituation her möglich wäre. 50 Prozent der Befragten geben an, eine solche Lösung käme für sie nicht infrage. Dennoch sprechen die Meinungsforscher aus Allensbach von einer „bemerkenswert hohen Aufnahmebereitschaft“. Allerdings spielt auch hier der Zeitfaktor eine wichtige Rolle. Eine Aufnahme von Flüchtlingen kommt vor allem bei den Befragten infrage, die davon ausgehen, dass die Flüchtlinge nur kurze Zeit in Deutschland bleiben.

Insgesamt sieht die Mehrheit gute Integrationschancen für Flüchtlinge aus der Ukraine – ein gravierender Unterschied zur Einschätzung in der Flüchtlingswelle 2015. Heute sehen 54 Prozent gute Chancen, dass die Geflüchteten in die Gesellschaft integriert werden können, 34 Prozent sind skeptisch.

Die positive Grundhaltung bedeutet aber nicht, dass es keine Sorgen in der Bevölkerung gibt. 27 Prozent sind überzeugt davon, dass Deutschland zwar im Moment die Lage im Griff hat, aber überfordert sein könnte, wenn die Zahl der Flüchtlinge weiter deutlich steigt. Kritisch gesehen werden auch die staatlichen Rahmenbedingungen: So machen sich 51 Prozent der Befragten Sorgen über den sogenannten Pull-Effekt, dass also aufgrund der Sozialleistungen viele Flüchtlinge angelockt werden. Ebenso kritisieren viele, dass zu wenig kontrolliert werde, welche Flüchtlinge nach Deutschland kommen.

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen