Hofgarten. Auf den Fluren geht es verhältnismäßig ruhig zu an diesem Vormittag in der „Frankensteiner Straße“. Es ist schließlich Werktag. Der Großteil der 23 Bewohnerinnen und Bewohner befindet sich bei der Arbeit. Ein kleines Grüppchen von drei Personen verweilt in einer Sitzecke. Dort liest Elias Brune, pädagogische Fachkraft, gerade aus dem Märchenbuch der Gebrüder Grimm vor. Heute ist „Frau Holle“ dran. Nicht jede Zuhörerin hat Verständnis für die kurze Unterbrechung, die der Rundgang mit Einrichtungsleiterin Isabell Seifert mit sich bringt. Die Großheubacherin ist seit wenigen Monaten nach der Gründung im Wohnheim tätig, zunächst als Fachkraft. Nachdem sie 2015 zur Stellvertreterin wurde, hat sie seit eineinhalb Jahren nun die Führungsposition inne. Zusätzlich arbeitet sie aber auch heute noch in der Pflege mit.
Mit einem freundlichen „Guten Morgen“ begrüßt sie jetzt die Bewohner. Sie alle vereint, dass sie aufgrund einer starken Beeinträchtigung auf Hilfe angewiesen sind. Dabei kann es sich um eine geistige, körperliche oder psychische Behinderung sowie Mehrfachbehinderung handeln.
Als Bewohner Wolfgang Schösser um die Ecke kommt, zaubert sich plötzlich ein besonderes Strahlen auf Seiferts Gesicht. „Alles Gute zum Geburtstag“ ruft sie ihm fröhlich entgegen. Wolfgang wird 62 Jahre alt. Er selber sagt auf Nachfrage, er werde 27 Jahre alt.
Doch ganz unabhängig von der exakten Zahl: Die Freude über seinen Freudentag sieht man ihm an. Vor allem freut er sich darauf, dass er heute zum Spaziergang nach draußen darf.
Denn das ist durchaus etwas Besonderes. Die Klienten können sich zwar frei bewegen und auch die Außentüren sind jederzeit offen. In der Praxis jedoch stellt der Alltag eine zu große Herausforderung dar. Ausgänge finden immer in Begleitung statt. Umso größer ist die Freude, wenn man an der Normalität partizipieren kann.
Gemeinsame Einkäufe haben einen hohen Stellenwert für die Bewohner. Eine Gruppe von sieben Klienten war vor einigen Tagen sogar auf der Messe in Miltenberg.
Eigentlich würde das Team solche Ausflüge gerne noch häufiger unternehmen. Doch das lässt die Personalsituation nicht immer zu. 23 Mitarbeiter stehen derzeit auf dem Gehaltszettel: Altenpfleger, Krankenschwestern, pädagogische Fachkräfte und Hilfskräfte. Auf der Messe wurde Seifert nicht nur von zwei Mitarbeiterinnen, sondern auch von ihrer Mutter und ihrer Tochter begleitet.
Aufgrund der Altersstruktur der Bewohner sei das Ziel der Eingliederungshilfe nicht immer zu erreichen: „Eigentlich wollen wir die Klienten in die Gesellschaft integrieren. Aber das Alter ist ein großes Problem“, stellt Seifert fest. Gut die Hälfte der Klienten wohnt schon seit der Eröffnung hier. Sie stammen gebürtig allesamt aus der Region. Das Ziel, einzelne Bewohner in ein eigenständiges Leben zurückzuführen, sei bisher noch nicht gelungen.
Mehr Kontakt zu Gleichaltrigen wünschenswert
Inzwischen sind sieben Klienten bereits im Rentenalter. Die jüngste Bewohnerin ist 20 Jahre alt. Gerade für die Jungen würde sich Seifert mehr Kontakt zu Gleichaltrigen wünschen. Doch die nächsten Wohnheime sind in Bad Mergentheim und Walldürn.
Wer noch nicht in Rente ist, arbeitet unter der Woche in den Werkstätten am Reinhardshof. In Vollzeit wohlgemerkt. Dort gibt es eine Dienstleistungsgruppe, die beispielsweise Montage- oder Gartenarbeiten erledigt. Vier Bewohner sind zudem im dortigen Förder- und Betreuungsbereich. Natürlich erhalten alle auch ein Gehalt. Dieses ist aber nicht mit einem „Durchschnittseinkommen“ vergleichbar. Aber es ist ein Taschengeld, über das jeder eigenständig verfügen darf.
Nach der Arbeit kann jeder den Feierabend nach seinen eigenen Wünschen gestalten. Es gibt zwar ein Rahmenprogramm, zum Beispiel Hundetherapie. Das ist allerdings nicht verpflichtend. Die Bewohner können die Zeit gemeinsam in den Aufenthaltsräumen verbringen oder sich auch in ihren Einzelzimmern aufhalten.
Dorthin lädt Geburtstagskind Wolfgang Schösser recht spontan zu einer Besichtigung ein. An der Wand hängen Familienfotos, eine Urkunde zum Arbeitsjubiläum sowie einige Bilder. In einfacher Sprache berichtet er, dass er aus Buchen stammt. Auf seinem Schreibtisch steht ein Fernseher. Davor liegt ein Puzzle mit mehreren hundert Teilen sowie eine FN-Ausgabe. Mittwochs gibt es auch immer eine Gruppe für gemeinsames Zeitungslesen. Denn dafür ist Unterstützung nötig. Alle Mahlzeiten werden übrigens gemeinsam zubereitet.
„Wir sind wie eine WG“, vergleicht Seifert. Auch hier gibt es bunt zusammengewürfelte Charaktere. Und damit auch die ganze Breite menschlicher Emotionen.
Ehrenamtliche sind willkommen
Besondere Freude rufen externe Gäste hervor. Eltern und Geschwister kommen häufiger ins Haus. Heimatbesuche finden regelmäßig statt. Aber auch Ehrenamtliche sind willkommen: „Meine Bewohner mögen es sehr gerne, wenn jemand von außen kommt.“ Die Freiwilligen könnten Tätigkeiten übernehmen, für die im Alltag oft zu wenig Zeit bleibt. Vorlesen, in die Kirche oder spazieren gehen etwa. Die Leiterin wünscht sich mehr Ehrenamtliche, die in ihr Haus kommen wollen. Sie weiß genau um Berührungsängste, teils auch Vorurteile in der Bevölkerung. Dabei hätten ihre Klienten besonders auf menschlicher Ebene viele Stärken: „Sie sind sehr ehrlich, direkt und offen.“ Durch Corona seien externe Angebote, wie Kochen in der Volkshochschule, aber völlig zum Erliegen gekommen. Seifert hofft, dass sich nun doch wieder einige Freiwillige finden: „Eine Lauf- oder Sportgruppe wäre super.“ Das kann auch mit nur einer Person sein. Rahmen und Umfang können individuell besprochen werden.
Bei den Fachkräften herrschte in diesem Jahr eine recht hohe Fluktuation. Erfreulich viele Angebote gehen über die Stelle des Bundesfreiwilligendienstes ein. Für ein freiwilliges soziales Jahr gebe es zahlreiche Bewerbungen, auch aus dem nicht-europäischen Ausland.
Gegen Mittag spielt noch ein Dreiergrüppchen Memory. Wer ein Kärtchen umdreht, soll immer auch sagen, welcher Gegenstand abgebildet ist. Sarah Pieler und Hermann Firmbach zeigen gemeinsam mit Fachkraft Elias Brune durchaus sportlichen Ehrgeiz. Während des Spiels erscheint noch Rentner Olaf im Aufenthaltsraum. Er strahlt über beide Ohren. Er liebt es, fotografiert zu werden. Gekonnt nimmt er auf der Couch Platz. Ein Fotomodel hätte es nicht besser machen können. Als wollte Olaf allen da draußen zeigen, dass auch hier drinnen Menschen mit vielen verschiedenen Stärken wohnen. Menschen, die zwar nicht immer „mitten“ in unserer Gesellschaft stehen können. Aber die dies nach ihren Möglichkeiten probieren. Und auf jeden Fall ein wertvoller Teil davon sind.
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