Wertheim. Eine junge Mutter steht am Empfangstresen der Kinderarztpraxis im Medizinischen Versorgungszentrum Tauberfranken (MVZ) in Wertheim. Ihr Baby liegt in der Transportschale, die sie neben sich abgestellt hat. Die Medizinische Fachangestellte (MFA) reicht ihr einige Unterlagen und sie besprechen das weitere Vorgehen.
Es ist 13.15 Uhr und eigentlich längst Zeit für die Mittagspause des Praxisteams. Die offizielle Sprechzeit an diesem Tag wäre um 11 Uhr zu Ende gewesen. Doch die Praxis in der Bahnhofstraße platzt aus allen Nähten. Das Spielzeug, das in den beiden durch Glaswände abgetrennten Wartezimmer verstreut am Boden liegt, steht wie ein Symbol für den Patientenansturm, den das Team Tag für Tag bewältigt.
Angespannt war die Situation um die kinderärztliche Versorgung in Wertheim seit längerem. Denn Kinderarzt Martin Englert sowie zwei angestellte Fachärztinnen und eine Assistenzärztin versorgen nicht nur Kinder aus Wertheim – 20 Kilometer Umkreis hatte der Arzt als Grenze festgesetzt. Dass sich Ende Januar zunächst eine Fachärztin von der Praxis verabschiedete, um künftig in der Palliativmedizin tätig zu sein, und schließlich zum Ende des Monats März die beiden verbliebenen Ärztinnen kündigten, zwingt Englert zu Konsequenzen (wir berichteten).
Immer zwei Blickwinkel
„Mein erster Reflex war, selbst auch aufzuhören“, gibt Englert zu. Freunde hätten ihn jedoch schnell überzeugt, nicht aufzugeben. Der 50-Jährige sitzt hinter dem Schreibtisch seines Behandlungszimmers. Für ihn gebe es immer zwei Perspektiven auf die Situation, erklärt er. Der nüchterne Blick als Leiter des MVZ und der emotionale als Kinderarzt. „Vielleicht war es ein Fehler, dass ich in Zeiten, in denen die Praxis gut gestellt war, keine Aufnahmegrenze gezogen habe. Aber mein Ziel war immer, dass jedes Kind, dessen Eltern einen Kinderarzt wollen, einen Kinderarzt haben soll. Vielleicht wäre der Druck für die Ärztinnen dann geringer gewesen“, überlegt er. Um die Praxis weiterführen zu können, musste das Team „massiv Termine absagen“. „Künftig wird es Patienten geben, die keinen Termin mehr erhalten können. Zunächst seien davon vor allem Kinder aus der bayerischen Nachbarschaft betroffen. Mich persönlich quält das“, schildert Englert die Folgen der neuen Personallage. Wer einen Termin abseits von akuten Erkrankungen bei Englert persönlich vereinbaren möchte, muss eine Wartezeit bis Februar 2025 einplanen. Die seit jeher lange Warteliste für einen Termin sei mittlerweile 120 Patienten lang.
Um die Situation etwas zu entschärfen, springe seit Anfang April sein Kollege Dr. Jürgen Wallstein an drei halben Tagen bei Vorsorgeterminen (U-Untersuchungen) ein. „Ich bin ihm sehr dankbar. Er hat bis vor zwei Jahren gearbeitet und macht das richtig gut. Auf diese Weise stellen wir die U-Termine bis September/Oktober sicher.“ Außerdem hätten die Wertheimer Hausärzte ihre Bereitschaft zur Hilfe signalisiert, und demnächst will sich der neue „Qualitätszirkel“ zum Austausch treffen. In der Kinderarztpraxis selbst verändert sich die Organisation: Beispielsweise würden Impfungen auf MFAs umgelegt, damit dem Arzt mehr Zeit für andere Behandlungen bleibe.
Respekt eingefordert
Damit, dass die Fachangestellten Aufgaben oder einfache Beratungen übernehmen, sind jedoch nicht alle Eltern einverstanden. Einige forderten zuletzt vehement ihr vermeintliches Recht ein, sofort einen Termin oder mindestens telefonische Beratung durch den Arzt zu erhalten. Teilweise seien die Helferinnen beleidigt worden, berichtet Englert, der im März mit einem Aushang reagierte. In deutlichen Worten forderte Englert darin „den gebührenden Respekt“ für sein Team ein. „Was wir in dieser Lage nicht brauchen können, sind Anfeindungen“, hieß es dort weiter.
„Das ist eine kleine Minderheit an Eltern, aber sie ist laut und unverschämt“, ordnet Englert ein. Gleichermaßen froh sind der Arzt und sein Team über die vielen positiven Rückmeldungen, die Eltern seit Ende der Osterferien äußern. „Die Dankbarkeit, dass wir weiter für ihre Kinder da sind, und die Wertschätzung, die uns jetzt entgegengebracht wird, rühren mich. Das motiviert uns, weitermachen zu wollen.“
Keine langfristige Lösung
Allerdings hat die Belastbarkeit Grenzen: 50 bis 60 Stunden ist Englert pro Woche im Einsatz, denn zu den regulären Öffnungszeiten der Praxis kommen wöchentliche Notdienste am Nachmittag und Abend sowie Dienste in der Kinderärztlichen Notfallpraxis am Caritas-Krankenhaus in Bad Mergentheim. „Ich leiste das, so lange es mein Körper mitmacht, aber hier allein zu praktizieren, ist keine langfristige Lösung“, betont Englert. Doch eine neue Kinderärztin oder einen neuen Kinderarzt zu finden ist schwer, im ganzen Land sind Stellen vakant. „Das beruht auf den politischen Entscheidungen der letzten 20 Jahre. Arzt zu sein, ist heute unattraktiv. Wir übernehmen viel Verantwortung und haben wenig Freizeit“, fasst Englert zusammen. Dass sich Nachwuchskräfte gleich für eine Arbeit mit besserer Work-Life-Balance entscheiden oder ihre Arbeitszeit als angestellter Arzt in einem festgesetzten Rahmen halten, kann der 50-Jährige nachvollziehen.
„Der Kinderarztmangel ist kein Problem, das nur Wertheim hat. In Miltenberg ist die Situation nicht besser. Ein Kollege im Main-Tauber-Kreis hat uns bereits lange angeboten, seine Praxis zu übernehmen. Das würden wir gerne tun, aber die Ärzte fehlen. Früher stapelten sich die Bewerbungen in der Kinderklinik Bad Mergentheim, in der mehr als 50 Prozent der Ärzte ausgebildet wurden, die heute im Main-Tauber-Kreis praktizieren. Heute ist man froh, wenn sich überhaupt jemand findet“, schildert Englert die Umstände, die sich nur durch ein Umsteuern auf höchster politischer Ebene und langfristig verändern lasse.
Bürokratie verhindert Einstellung
Umso ärgerlicher sei es, wenn die Bürokratie einer kurzfristigen Lösung im Weg steht. So hatte Englert eine Interessentin für die Assistenzarztstelle gefunden. Das Problem: Die junge Frau absolvierte ihre bisherige Ausbildung in Bayern, erbrachte Leistungen müssten zunächst für Baden-Württemberg anerkannt werden. Dafür fehlt nun die Unterschrift eines Vorgesetzten, der mittlerweile nicht mehr praktiziert. „Deshalb legt uns die Bezirksärztekammer einen Knüppel zwischen die Beine“, ärgert sich Englert.
Immerhin einen Lichtblick gibt es: Bis Ende April wird sich eine Fachärztin entscheiden, ob sie künftig in der Kinderarztpraxis im MVZ arbeiten möchte. „Sie war bei uns zum Probearbeiten, und wir haben für sie ein Haus am Waldrand gesucht und gefunden“, berichtet Englert. Allerdings ist der 50-Jährige nicht der Einzige, der die Kollegin gerne einstellen möchte. „Aber die Hoffnung, dass sie sich für uns entscheidet, ist da.“
Der Arzt schaut auf die Uhr. Es ist kurz nach 14 Uhr. Englert freut sich: Heute schafft er es, seine Kinder selbst aus der Betreuung abzuholen.
Versorgungszahlen der Kassenärztlichen Vereinigung aus dem Jahr 2023
Im Main-Tauber-Kreis waren laut dem Versorgungsbericht der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) im Jahr 2023 zwölf zugelassenen und angestellte Kinder- und Jugendfachärzte tätig. Diese verteilten sich auf Bad Mergentheim (fünf Ärzte), Boxberg (ein Arzt), Lauda-Königshofen (ein Arzt), Tauberbischofsheim (zwei Ärzte), Wertheim (drei Ärzte).
Ein Drittel der 2023 im Main-Tauber-Kreis tätigen Kinderärzte war dabei über 60 Jahr alt. Nur fünf der zwölf tätigen Ärztinnen und Ärzte waren unter 50 Jahren.
„Grundsätzlich ist die Zahl der Kinder- und Jugendärzte von 881 im Jahr 2013 auf 1011 im Jahr 2023 deutlich gestiegen“, heißt es in dem Versorgungsbericht der KV-Baden-Württemberg. Auch die Versorgungsaufträge seien angestiegen, allerdings nicht im gleichen Maß. Gründe hierfür sind die Zunahme von Teilzeitarbeit und die Tätigkeit im Angestelltenverhältnis.
Als Gründe für die Versorgungsengpässe nennt die KV neben steigenden Geburtenzahlen´die Ausweitung von Vorsorgeuntersuchungen, Impfungen, aber auch neue Erkrankungen wie ADHS oder psychosoziale Probleme. Sicherlich spiele auch die abnehmende Fähigkeit der Eltern, den Schweregrad von Krankheiten der Kinder richtig einzuschätzen, eine Rolle. kabu
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