Wertheim. Zu welchen Verstörungen der Holocaust über Generationen hinweg führte, zeigt das Beispiel der Familie Bruckheimer/Schwarzschild.
Die Wertheimer beziehungsweise Dertinger jüdischen Familien Brückheimer und Schwarzschild haben mehrfach hin- und her geheiratet und werden daher sinnvollerweise als eine Familie betrachtet. Sechs Menschen aus deren engeren Kreis wurden im Holocaust umgebracht: Sophie Brückheimer, geborene Wolf (1860) und drei ihrer fünf Kinder mit Namen Selma (geboren 1893), Hilda (1894) und Hedwig (1896) sowie die Dertinger Eheleute Adolf Schwarzschild (1882) und Sophie, geborene Brückheimer (1881), sowie Adolfs Tochter Erika (1913). Ermordet wurde auch Adolfs Schwester Amalia Goldschmidt, geborene Schwarzschild (1880). Zwei der erwähnten fünf Kinder, Ludwig (1898 bis 1983) mit seiner Ehefrau Irma, geborene Schwarzschild (1900 bis 1991), sowie Max Brückheimer (1903 bis 1995) gelang die Flucht in die USA, ebenso Erikas Schwester Hilda (1918 bis 2007). Max und Hilda heirateten 1940 in London.
Die Familien von Ludwig und Max begründeten den Fortbestand der Familien. Aus Ludwigs Familie entsprang noch in Deutschland Lore Brückheimer, später Laura Jonson (1933 bis 2019). Max und Hilda bekamen 1941 in den USA Sohn Michael Bruckheimer (1941 bis 2025). Weitere Generationen wurden begründet. Seit den Ermordeten im Holocaust (Generation 1) leben heute Familienmitglieder weiterer vier Generationen. Als „Zeitzeugin“ aus Generation 1 in der Familie lebte Hilda Bruckheimer, geborene Schwarzschild, bis 2007. Doch wie die meisten Holocaust-Überlebenden in Deutschland hat auch sie in den USA nie über diese Vergangenheit gesprochen. So hat sie etwa ihre ermordete Schwester Erika nie erwähnt.
Seit 2012 war der Autor dieser Serien mit Michael Bruckheimer im Austausch, ab 2020 noch viel intensiver mit dessen Töchtern Stacey und Shari sowie zwei Töchtern von Stacey namens Merav und Liat. Bereits ab Generation 2 spricht in der Familie niemand Deutsch. Besonders mit Shari erforschte Fauth 2020 bis 2025 den Familiennachlass aus der NS-Zeit und danach, der aus hunderten deutschsprachigen Schriftstücken (zumeist mit Wertheimbezug) besteht und in der Familie „Holocaust-Box“ genannt wird. Diese Forschung war und ist von intensiven Gesprächen begleitet. Stacey besuchte 2023 mit ihrem Ehemann und den beiden Töchtern auch Wertheim.
Auswirkungen ganz anderer Art als auf Verfolgtenseite
Im Gespräch ging es auch um die Wirkung des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust auf die nachwachsende Generationen. Fauth (geboren 1956) verwies auf seine Erfahrungen als Kind eines schwer traumatisierten Vaters, der aufgrund seiner Kriegstraumata als Soldat an der Ostfront (mit schwersten Verwundungen) nach dem Krieg Gewalt in seine Familie und gegen seinen Sohn brachte. Es gab also auf der Täterseite und den nachfolgenden Generationen ebenfalls Verstörungen ganz anderer Art als auf der Verfolgtenseite. Das war aber nicht das Hauptthema.
Wie sich die Verstörungen bei Bruckheimers gestalten, soll mit einer Ausführung von Shari vom Juli 2025 knapp illustriert werden (Übersetzung aus dem Englischen): „Mein Vater [Michael Bruckheimer] wird so sehr vermisst. Das Thema Holocaust und seine Familie erfüllten ihn mit großer Angst, Wut und Trauer. Es fiel ihm schwer, darüber zu sprechen. Manchmal weinte er. Manchmal wurde er wütend, wenn es angesprochen wurde. Er wusste nicht, was er mit diesen Emotionen anfangen sollte. Ich denke, als wir ,es ihm abnahmen‘, die Kiste [die „Holocaust-Box“] abnahmen, ihm in gewisser Weise das Verständnis dafür abnahmen, wurde er erleichtert, dass es nicht mehr seine Last war. Er hatte Mühe, es zu erklären, wenn er es nicht verstand. Als wir das Projekt der nächsten Generation übergaben, war er etwas eher bereit, es zur Diskussion zu stellen, weil es nicht mehr in seiner Verantwortung lag und es zu überwältigend für ihn war.“
In der Begegnung mit Familienmitgliedern der Generation 3 erlebte Fauth ebenfalls ein intensives Bedürfnis nach Bewältigung von Verstörung. Er lernte, wie in dieser Generation jedes historische Detail des damaligen grausamen Geschehens wichtig wurde. Es war keine rein historische Neugier, sondern tatsächlich brachte jedes historische Detail die Gelegenheit, wieder etwas Schlimmes einordnen und ablegen zu können. Wieder war etwas Entlastung möglich. Als erst 2023 überhaupt klar wurde, dass die Schwester des Großvaters Adolf Schwarzschild namens Amalia Goldschmidt ermordet wurde und nicht überlebt hatte, führte das – trotz der schlimmen Nachricht – zu Erleichterung in den Familien Bruckheimer. Denn jetzt konnte Amalia in die Erinnerungsarbeit der Familien aufgenommen und auch für sie gebetet werden.
Die Betroffenen sind mit ihrer Generationenarbeit nicht alleine. Es gibt zu beider Situation, sowohl zu den Tätergenerationen als auch zu den Verfolgtengenerationen, wissenschaftliche Literatur. Fauth und seine Gesprächspartner hielten als Schlussfolgerung fest, dass die Verstörungen auf seiner (Täter)-Seite über Generationen hinweg zu Sprach- und Kommunikationshemmung führten und bei den Generationen, die den Ermordeten nachfolgten, zu einer diffusen Angst als den Grundprägungen des jeweiligen Lebens. Stacey hat im September 2024 in den USA eine Ausbildung zum „speaker of the 3G (3rd-Generation)-group“ abgeschlossen und kann jetzt professionell anderen helfen, durch den Holocaust verursachte Verstörungen zu bearbeiten. Auch spricht sie als „living link“ und „3G-speaker“ unter anderem in Schulen und Gemeinden zum Thema.
Stacey, ihr Ehemann Oren und ihre erwachsenen Töchter Merav und Liat besuchten 2023 zum ersten Mal Deutschland und auch Wertheim sowie Dertingen. Gemeinsam mit Fauth schauten sie möglichst alle für die Familien wichtigen Orte an, waren auch auf dem bis heute gottverlassenen Würzburger Bahnhof Aumühle, von dessen Rampe aus einige der Familienmitglieder deportiert wurden. Merav nahm als ein „zweifelhaftes Souvenir“ einen großen Nagel, mit dem die damaligen Schienen befestigt waren, mit in die Heimat. Die Ernsthaftigkeit, hohe Konzentration und Ausdauer, mit der die beiden Töchter die Reise erlebten, zeigte, dass das verstörende Familiengeschehen auch für sie noch nicht nur zur Historie geronnen ist.
Es ist, wie wenn ein bitterer Trunk von Generation zu Generation Verdünnung erfährt. In dieser Flüssigkeit wird die Bitterkeit nie ganz verschwinden können. Hierin ist die Verantwortung von den Heutigen begründet, zu Begegnung und Heilung beizutragen. Die Schuld der Damaligen hat sich in diese Verantwortung verwandelt.
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