Wertheim. Herr Professor Gassert, Ihr Vortrag in Wertheim trägt den Titel „Deutschland, Europa, Amerika – Über Geschichte, Gegenwart und Zukunft der transatlantischen Beziehungen“. Wie würden Sie den aktuellen Zustand dieser Beziehungen beschreiben – vor allem im Lichte der wieder zunehmenden Isolationstendenzen in den USA?
Philipp Gassert: Wir befinden an einem Kipppunkt. Es ist ein Drahtseilakt, den auch Bundeskanzler Merz vollführen muss. Immerhin ist es ihm gelungen, die Europäer vor dem Alaska-Treffen mit Putin wieder ins Spiel zu bringen. Trump ist mittlerweile zurückgerudert, was seine Rhetorik zur Ukraine angeht. Aber niemand kann uns garantieren, dass es übermorgen nicht wieder anders aussieht. Die Sache ist äußerst prekär. Es gibt keine Selbstverständlichkeit, keine Zuverlässigkeit mehr in den transatlantischen Beziehungen.
Donald Trump prägt die US-Außenpolitik derzeit mit einem stark konfrontativen Stil. Stichwort: „America first“ („USA zuerst“). Ist das nach Ihrer Einschätzung ein vorübergehendes Phänomen, oder erleben wir tatsächlich eine strukturelle Zäsur in der US-amerikanischen Politik, die über einzelne Akteure hinausgeht?
Gassert: Das werden die nächsten Wahlen entscheiden. Nicht nur die Midterms im nächsten Jahr, sondern vor allem die Präsidentschaftswahl in drei Jahren. Wir erleben eine nationalistische, egoistische und unilaterale Außenpolitik. „America first“ heißt ja nicht, dass sich die USA komplett aus der Welt verabschieden. Sie sind weiterhin eingebunden: militärisch, wirtschaftlich, kulturell. Schauen Sie sich die Verhandlungen in Ägypten um den Gaza-Konflikt an. Dort waren die USA unglaublich präsent. Aber die Vereinigten Staaten möchten sehr viel stärker, als es im Kalten Krieg oder auch noch in den 90-er Jahren der Fall war, ungebunden von Rücksichten auf andere bestimmte Entscheidungen treffen. Und das in einem sehr eng verstandenen nationalen Interesse. Dafür steht Trump.
Viele Beobachter fragen sich, ob sich das durch Trump beschädigte Vertrauen zwischen Europa und den USA überhaupt wiederherstellen lässt. Was müsste passieren, damit beide Seiten erneut zu einem belastbaren Verhältnis finden?
Gassert: Man bräuchte einen amerikanischen Präsidenten oder eine Präsidentin, die wie Obama sehr anschlussfähig wären für die Europäerinnen und Europäer. Eine gewisse Distanz haben wir schon mal erlebt. In der Amtszeit von Georg W. Busch nach dem 11. September. Der US-Krieg gegen den Terror, der Überfall auf den Irak waren teils völkerrechtswidrig. Damals war das transatlantische Verhältnis, zumindest das deutsch-amerikanische Verhältnis, sehr stark gestört. Als dann Barack Obama Präsident wurde, war die Begeisterung hier wieder riesig. Es gab eine konkrete, vernünftige Zusammenarbeit, etwa in der Frage von Abrüstung nuklearer Interkontinentalraketen. Obama und Angela Merkel haben auf einer vernünftigen Ebene zusammengearbeitet. Vor diesem Hintergrund glaube ich, dass die Entwicklung wieder in eine andere Richtung gehen könnte. Aber natürlich wird man nicht einfach in den Zustand vor Donald Trump zurückkehren können. Mittlerweile prägt eine tiefe Spaltung die innergesellschaftlichen Verhältnisse in den USA.
In den USA ist der Rechtspopulismus – zumindest auf Bundesebene - an der Macht. In Europa ist er in einigen Ländern auf dem Vormarsch. Elementare Bestandteile der US-Demokratie, wie etwa die Gewaltenteilung werden attackiert. Ist das ein Trend, der auf beiden Seiten des Atlantiks zu autoritären Regierungsformen führen kann?
Gassert: Ich fürchte: ja. Es gibt so eine Art der Internationale der Rechtspopulisten: Orban in Ungarn, Meloni in Italien. Marine Le Pen könnte schon bald Präsidentin in Frankreich sein. Dann gäbe es aus deren Perspektive möglicherweise sogar eine produktive Zusammenarbeit zwischen beiden Seiten des Atlantiks. Vielleicht definieren sich die transatlantischen Beziehungen in diesem rechtspopulistischen Sinne neu. Das könnte passieren. Jedenfalls haben die USA innenpolitisch derzeit eine starke Neigung, sich von internationalen Verpflichtungen zu verabschieden. Diese gewisse Selbstverständlichkeit, dass die USA als Hegemon von ihrer Bündnisstruktur profitieren, aber dafür auch bestimmte Dienstleistungen militärischer Art und Weise zur Verfügung stellen, ist passé. In Trumps Augen veräppeln die Bündnispartner die USA, in dem sie unter den militärischen Schutzschirm schlüpfen, aber gleichzeitig den Markt in Übersee mit ihren Produkten überschwemmen.
Zur Person: Philipp Gassert
- Professor Dr. Philipp Gassert (1965 in Wertheim geboren) ist Historiker und Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Mannheim .
- Nach dem Studium und der Promotion in Heidelberg war Gassert an zahlreichen renommierten Forschungsinstitutionen tätig, darunter dem Deutschen Historischen Institut in Washington, den Universitäten in Heidelberg, München, Augsburg und Philadelphia.
- Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die deutsche und europäische Zeitgeschichte, transatlantische Beziehungen, Protestgeschichte sowie die US-Außenpolitik des 20. und 21. Jahrhunderts.
- Gassert veröffentlichte zahlreiche Werke, zuletzt zur deutschen Protestgeschichte und zu den transatlantischen Beziehungen. Am 16. April 2026 erscheint bei dtv aus Anlass des 250. Geburtstags der USA der Band „Die Bipolare Nation. Was Amerika der Welt gegeben hat – im Guten wie im Schlechten“. wei
Europa steht derzeit zwischen den globalen Machtblöcken USA und China. Wie sollte sich Europa Ihrer Meinung nach aufstellen, um gegenüber Washington und Peking eine eigenständigere Rolle spielen zu können, mit der die Demokratie und die Ökonomie gestärkt wird?
Gassert: Es könnte die Stunde Europas sein, das wäre mein Wunsch als überzeugter Europäer und auch im Sinne der europäischen Integration, dessen Produkt die EU ist. Sie merken aber schon an dem Konjunktiv: Ich fürchte, dass es nicht die Stunde Europas wird, weil wir nicht wirklich zusammenarbeiten oder verstehen, dass wir unsere Verteidigung tatsächlich europäisieren müssten, um effizienter gegenüber Russland oder anderen Mächten vorzugehen. Das schaffen wir nicht. 29 europäische Nato-Mitgliedstaaten mit eigenen Militärorganisationen. Zählt man alles zusammen, gibt Europa sehr viel mehr für Verteidigung aus als beispielsweise Russland. Aber diese Verteidigungskraft ist zersplittert und schlecht organisiert. Ihre abschreckende Wirkung ist überschaubar. Auch der europäische Binnenmarkt ist eine große Stärke. Er gibt uns handelspolitisch sehr viel Gewicht gegenüber China und den Vereinigten Staaten. Wir müssen uns eigentlich nicht verstecken. Jetzt gibt es rechte Populisten wie Orban, die zwar sagen, dass sie nichts von der EU halten, aber von der wirtschaftlichen Integration profitieren. Sie sind nicht bereit, nach den Regeln mitzuspielen. Das ist ein Riesenproblem im Inneren Europas.
Die exportorientierte Industrie in Wertheim ist stark auf den US-Markt, aber auch von China abhängig. Welche Risiken sehen Sie für solche Unternehmen, wenn die transatlantischen Beziehungen dauerhaft angespannt bleiben? Die bisherige, sprunghafte Zollpolitik der Trump-Administration hat auf beiden Seiten schon Schaden angerichtet.
Gassert: Natürlich besteht das Risiko, dass Zölle nochmal erhöht werden oder dauerhaft erhalten bleiben. Das hat Umsatzeinbußen für die Unternehmen zur Folge. Die Weltmarktführer, die sogenannten Hidden Champions, von denen es einige auch in Wertheim gibt, sind mit teils sehr komplexen Produkten erfolgreich, die eine hoch spezialisierte Fertigung erfordern. Diese Produkte können nur in eine hoch entwickelte Volkswirtschaft wie die der USA exportiert werden. Der US-amerikanische Markt mit seinen über 300 Millionen Konsumenten ist sehr attraktiv. China ist wenig ausgetrocknet, weil es wirtschaftlichen Herausforderungen und interne Krisen gibt. Außerdem drängt es mit seinen Produkten selbst auf den Weltmarkt und läuft den Europäern in manchen Bereichen den Rang ab. Generell gilt: Sowohl die USA als auch China nutzen ihre politische und militärische Macht aus, um die Europäer auch wirtschaftlich unter Druck zu setzen.
Wertheim war jahrzehntelang ein relativ großer US-Militärstandort. Wie hat diese Präsenz aus historischer Sicht die lokale und gesellschaftliche Verbindung zwischen Deutschen und Amerikanern geprägt – und wirken solche Erfahrungen bis heute nach?
Gassert: Bei den Älteren, also Leuten in unserem Alter, wirken diese Erinnerungen nach. Wenn man früher auf die Wertheimer Messe gegangen ist, waren die US-Amerikaner stark präsent. Es gab auch das deutsch-amerikanische Freundschaftsfest. Es waren ja während des Kalten Kriegs hier nicht nur Armeeangehörige stationiert. Die Familien waren auch vor Ort. Ich bin in Waldenhausen aufgewachsen, und es war selbstverständlich, dass wir mit den Kindern der US-Familien der Nachbarschaft gespielt haben. Es gab diese Straßenkreuzer, viel größer als unsere Autos. Insgesamt hatte unser Bild der USA sehr viel mit dem Militärischen zu tun, beispielsweise mit den Panzern, die durch die Straßen fuhren. Erst als ich später in den USA gelebt habe, lernte ich die zivile Seite besser kennen. Man muss zudem grundsätzlich festhalten: Die bundesdeutsche und später gesamtdeutsche Demokratie ist stark mit den USA verknüpft. Die Einflüsse der US-amerikanischen Verfassung waren prägend.
Sie sind in Wertheim aufgewachsen und heute Professor in Mannheim. Welche Bedeutung hat es für Sie persönlich, mit diesem Vortrag in Ihre Heimatstadt und an Ihre frühere Schule zurückzukehren – gerade in einer Zeit, in der viele Gewissheitheiten in den internationalen Beziehungen ins Wanken geraten?
Gassert: Ich komme gerne in meine Heimatstadt. Sie ist mein Ausgangspunkt. Dort habe ich am Bonhoeffer Gymnasium mit dem Abitur die Grundlagen gelegt. Wie viele junge Wertheimer und Wertheimerinnen musste ich weggehen, weil es keine Universitätsstadt ist und man deshalb woanders sein Glück suchen muss. Aber natürlich erinnere ich mich bei einer Rückkehr an meine eigene Geschichte, meine Kindheit und Jugend. Meine Mutter lebt hier. Als akademischer Lehrer pflege ich gerne den Umgang mit jungen Menschen, auch mit Schülerinnen und Schülern. Als Historiker muss man ein bisschen ein Gefühl haben für das, was jüngere Menschen umtreibt. Sie sind ja völlig anders aufgewachsen als wir. Am Donnerstag werden wir zusammen wichtige Fragen diskutieren. Ich bin äußerst gespannt darauf, wie das Publikum auf das regiert, was ich zu sagen habe und freue mich auf die Diskussion.
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