Wertheim. Wir müssen reden! So heißt die neue Veranstaltungsreihe der Stadtbücherei Wertheim. Bibliotheksleiterin Katja Schmitz erklärt gegenüber unserer Redaktion ihr Ziel: „Wir brauchen mehr Möglichkeiten für Begegnung und respektvollen Austausch. Die Stadtbücherei möchte ihre Räume dafür nutzen und fundierte Informationen, sowie faktenbasiertes Wissen zur Verfügung stellen.“ Die Gäste der in loser Folge vorgesehenen Gesprächsabende sollen Kritik äußern können, aber auch bekennen dürfen, etwas nicht zu wissen. Schmitz, selbst studierte Germanistin und Soziologin, freue sich auf interessante Abende über viele verschiedene Themen, Trends, Politik und natürlich auch Bücher.
Der Auftakt dazu am vergangenen Donnerstag bildete ein politisches Buch und hätte fulminanter kaum sein können. Mit über 20 Interessierten war das Foyer der Bücherei gut gefüllt, das Thema war kein geringeres als Weltpolitik. Der promovierte Wirtschaftspsychologe und langjährige Unternehmensberater Horst Kern stellte Herfried Münklers im Mai erschienenes Buch „Macht im Umbruch“ vor. Münkler, Jahrgang 1951, ist Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Ideengeschichte. Insbesondere in den letzten Jahren brachte er in umfangreichen und doch gut lesbaren Büchern seine Sorgen um die Zukunft der Welt zum Ausdruck. Deren Titel waren fast beliebig austauschbar. Nach „Welt im Umbruch“ (2021), „Welt in Aufruhr“ (2023) nun also „Macht im Umbruch“. Es ist unterhaltsam geschrieben, verfügt aber dennoch über einen wissenschaftlichen Endnotenapparat und ein umfangreiches Literatur- und Quellenverzeichnis.
In seinem Werk fordert der Politologe eine neue Verfassung für ein Kern-Europa, das von einer Zone assoziierter Länder umrahmt sein solle. Er beschwört den gut informierten, beobachtenden Bürger, der die Gesellschaft aktiv gestaltet. Münkler greift dabei tief in die abendländische Ideengeschichte zurück. Durchaus kurzweilig zeichnet er lange Bögen von den Anfängen der Demokratie in der Antike über das Römische Reich als Machtzentrum bis zu den Machtblöcken der Gegenwart und bezieht sich auf einflussreiche Denker aller Epochen, von Perikles über Machiavelli bis zu Fukuyama. Fukuyamas Vision aus dem Jahr 1989 fand Münkler offenbar selbst als Sozialdemokrat verlockend. Der US-Amerikaner hatte herbeiphantasiert, mit dem Ende des „Kalten Krieges“ und dem Sieg der neoliberalen Marktwirtschaft sowie des westlichen Demokratiemodells sei das „Ende der Geschichte“ eingeläutet. Umso mehr arbeitet sich Münkler nun Buch um Buch daran ab, dass es trotz NATO-Erweiterung nun ganz anders gekommen ist. In allererster Linie sei es wichtig, mahnt er, dass Europa mit geeinter Stimme seine Werte vertrete.
Horst Kern gelingt es, vielen, die „Macht im Umbruch“ nicht gelesen haben, Münklers Gedankengänge und Botschaften nahezubringen. Ein Teilnehmer zeigte sich sicher: „Münklers Sammelsurium von Ideen muss ich nicht lesen.“ Bereits im ersten Diskussionsbeitrag nach der Buchvorstellung wurde die Auffassung, wir seien die Guten und hätten Werte, die anderen hätten nur Interessen, als selbstgerecht kritisiert.
Andere Teilnehmerinnen und Teilnehmer sorgten sich vor zunehmendem Populismus. Kern erwiderte, er habe Münkler so verstanden, dass man sich entweder umfassend informieren, oder auch mal die Klappe halten solle. Das sei der Gegensatz zum Populismus.
Ein anderer Gast kritisierte russische Interessen in antikommunistischer Tradition und merkte an, schon seit 1917 betreibe Russland Desinformationspolitik. Der Diskussionsbeitrag entsprach nicht nur Münklers Horrorszenario, Russland wolle von Lissabon bis Wladiwostok die Herrschaft an sich reißen. Horst Kern setzte noch eins drauf und dachte laut über Spendenaufrufe für Waffen an die Ukraine nach. Eine Teilnehmerin hingegen äußerte, wir sollten weniger über eine Welt der Macht und Aufrüstung und mehr über Möglichkeiten von Friedenspolitik reden, während ihre Nachbarin kritisierte, ein öffentlicher Diskurs sei überhaupt nicht mehr da.
Gerade an diesem Abend fand er statt und Katja Schmitz‘ Aufforderung „Wir müssen reden!“ wurde dankbar angenommen.
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