Verfolgte im Nationalsozialismus (Teil 5)

Lina Hildenbrand aus Mondfeld: als „unwertes Leben“ ermordet

Mit 22 Jahren erleidet die junge Frau eine „Kopfgrippe“. Nach Odyssee durch Heilanstalten bringen Nazis sie in Tötungseinrichtung Grafeneck um.

Von 
Dieter Fauth
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Eine Ernte-Szene in Mondfeld im Jahr 1914, festgehalten von August Futterer in einer Federzeichnung. Dargestellt sind Lina Hildenbrand (Mitte) und ihre neun Jahre ältere Schwester Franziska (rechts). Futterer hat Personen stets sehr naturgetreu gemalt. Also wird er entsprechend auch bei Lina Hildenbrand verfahren sein. © Sammlung Birgit Lotz

Wertheim. Eine große Verfolgtengruppe des NS-Regimes stellten Bewohner von Heimen dar, da sie als Bedrohung für die „Rassehygiene“ des deutschen Volkes galten – psychische Erkrankungen und Behinderungen wurden damals als erblich eingestuft – sowie wegen der hohen Kosten der Heimaufenthalte, die die Nazis lieber in die Rüstungsindustrie stecken wollten. Unter 40 Wertheimern, die vor diesem Hintergrund ermordet wurden, ist Lina Hildenbrand (geboren 1901) aus Mondfeld. Ihr ist dieser Teil der FN-Serie „Verfolgte im Nationalsozialismus“ gewidmet.

15-jährig wird Lina mit „guten Schulzeugnissen“ aus der Volksschule Mondfeld entlassen und ist danach als Hilfe im Haushalt und auf dem Feld beschäftigt. Sie ist jetzt „sehr lebenslustig“, „anspruchsvoll, besonders bei (...) der Kleidung“ und „wollte Stadtleben“. 1919 hat sie sich diesen Wunsch erfüllt, als sie für ein halbes Jahr in Offenbach in Stellung ist. 1922/23 lebt sie als Dienstmädchen in Frankfurt.

Im Alter von 22 Jahren erleidet Lina eine „Kopfgrippe“, also eine Entzündung im Gehirn. Ende des Jahres wird sie in einem Erregungszustand in das Städtische Krankenhaus, dann in die Psychiatrische Klinik in Frankfurt eingeliefert. Dort wird festgestellt, dass sie „immer eigensinnig“ sei, „autistisch“, liege „Wochen lang im Bett, läuft planlos herum, hört Stimmen“. Es wird eine „rasch fortschreitende Demenz“ diagnostiziert. Schließlich wird sie „ungeheilt entlassen“.

Ab März 1924 lebt Lina im Haus von Angehörigen, wohl bei ihrer Schwester und Familie in Mondfeld. Ihr Arzt aus Stadtprozelten hält dies nicht für zweckmäßig und empfiehlt die Einweisung in eine Heil- und Pflegeanstalt. Die Patientin leide an ‚Demenz‘ und an „Panomanie“ (Sehstörung). Lina liegt jetzt wochenlang nur im Bett. So stellt ihr Schwager beim Bezirksamt Wertheim einen Antrag auf Aufnahme der „geistesschwachen“ Schwägerin in die psychiatrische Klinik Heidelberg. Die Kosten trägt zunächst die Kranke aus ihrem ererbten Vermögen.

Kranke lebt unausgesprochen in großer Gefahr

Von Mitte 1924 bis September 1933 lebt Lina in der Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch. Bereits ab 1926 ist ihr Vermögen aufgebraucht, sodass die Ortsarmenkasse Mondfeld die weiteren Pflegekosten zu tragen hat. Wegen der Rassegesetze der Nazis lebt sie ab 1933 unausgesprochen in großer Gefahr. Ihr drohen Zwangssterilisation und – wie man rückblickend weiß – alsbald Ermordung.

Es folgt eine Odyssee durch verschiedene Heilanstalten. Auf der Reichenau wird beschlossen, dass für Lina Hildenbrand „ein Sterilisierungs-Antrag nicht gestellt (wird), da Entlassung nicht absehbar“ ist. In der Anstalt Raststatt (1934 bis 1937) wird ihr „Schizophrenie“ bescheinigt, damals ein Allerweltsetikett für psychische Handicaps. Mitte 1935 wechselt der Kostenträger vom Ortsarmenverband Mondfeld zum Bezirksfürsorgeverband Wertheim. Mitte 1940, wieder zurück auf der Reichenau, wird ihr das „Bild eines katatonen (von Schizophrenie und Irresein geprägten, Anmerkung der Redaktion) Endzustandes“ bescheinigt: „Unordentlich, unreinlich, oft gewalttätig, stumpf, autistisch, unansprechbar.“ Seit Januar 1940 lässt das NS-Regime solche Menschen in nach und nach sechs Massentötungsorten im Reich zu Zehntausenden umbringen.

Die NS-„Euthanasie“-Tötungseinrichtungen im so genannten „Deutschen Reich“. Dort wurden von den Nationalsozialisten massenhaft Menschen ermordet. © Dieter Fauth

Auch Lina Hildenbrand gerät in die Mordmaschine der Nazis. Im Juni 1940 wird sie zunächst in die Anstalt Zwiefalten „verlegt“, besser gesagt: deportiert. Denn Zwiefalten dient als Zwischenstation für die reibungslose Abwicklung der Todestransporte in die Tötungseinrichtung Grafeneck bei Münsingen. Auch Lina wird am 17. Juni 1940 dorthin gebracht und am selben Tag ermordet. Die Angehörigen in Mondfeld erfahren Todestag und -ort nicht und erhalten auch nie amtliche Urkunden.

1955 fragt das Landratsamt Tauberbischofsheim beim Bürgermeister von Mondfeld nach, ob Lina Hildenbrand noch lebt. Bürgermeister Josef Seyfried antwortet: „Maria Lina Hildenbrand ist an einem nicht bekannten Tage, vermutlich bei einer Massenlygwidation (-liquidation) 1940 verstorben. Die Angehörigen wissen keine Daten und erhielten keine amtliche[n] Urkunden.“ 1982 erhält der damalige Bürgermeister von Mondfeld, Walter Schmidt, auf Rückfrage vom „Krankenhaus“ (bei Konstanz?) die Auskunft, Maria Hildenbrand sei am 17. Juni1940 „im Rahmen besonderer planwirtschaftlicher Maßnahmen in eine andere Anstalt verlegt“ worden. Noch 1982 bedient sich diese Verwaltung also derselben Formulierung, mit der die Nazis 1940 den Mord verschleierten. Daraufhin erklärt das Amtsgericht Lina Hildenbrand 1983 für tot.

1992/93 werden zirka 30.000 Krankenakten von „Euthanasie“-Toten, die vormals in Ostberlin in einer Stasibehörde lagerten, zugänglich und später im Bundesarchiv Berlin als Bestand R 179 archiviert und katalogisiert. Es ist ein Restbestand von ehemals 90.000 Akten, die aber zu DDR-Zeiten größtenteils verrottet sind.

2012 wird im Rahmen des Wertheimer Projekts „Stolpersteine“0 die Akte von Lina Hildenbrand (Nr. 1299) ausgewertet. Damit ist ein ausdrücklicher Beleg der Ermordung möglich.

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