Jugendbuch „Der Tunnelbauer“

Lesung in Wertheim: Geschichte von Wut und Liebe

Die von Maja Nielsen geschilderten Erlebnisse von Joachim Neumann und dessen Schilderung der Flucht aus der DDR-Flucht fesselten die Zuhörer.

Von 
Nadine Schmid
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Interessiert verfolgten die Zuhörer die Lesung von Maja Nielsen in Wertheim aus ihrem Jugendbuch „Der Tunnelbauer“ und die Schilderungen von Joachim Neumann, auf dessen Lebensgeschichte der Roman basiert. © Nadine Schmid

Wertheim. „Es ist die Geschichte einer unbändigen Wut und einer großen Liebe“, kündigte die Kinder- und Jugendbuchautorin Maja Nielsen ihren etwa 80 Zuhörerinnen und Zuhörern beim Kleinkunstverein Convenartis zu Beginn der Lesung aus ihrem Jugendbuch „Der Tunnelbauer“ an. Gebannt lauschten die Gäste den lebendig vorgetragenen Textpassagen und den Schilderungen des 86-jährigen Joachim Neumann, auf dessen Lebensgeschichte der Roman basiert.

Wenn man in einem Land nicht frei seine Meinung sagen kann und gute Freunde für Nichtigkeiten ins Gefängnis wandern, wächst der Wunsch, das Land zu verlassen. Erst recht, wenn man durch Mauer und Stacheldraht eingesperrt ist. So ging es dem Studenten Joachim Neumann 1961 in der DDR. Mit einem gefälschten Schweizer Pass konnte er die Grenze nach West-Berlin passieren.

Nielsen gelingt es, diese wie alle anderen Szenen derart plastisch zu schildern, dass man direkt mitfühlt. Wird der Grenzer den jungen Mann ansprechen? Denn dann ist er geliefert – den Schweizer Dialekt beherrscht der Student des Bauingenieurwesens nicht. Im Westen angekommen, hat Neumann nur ein Ziel: Seine Schwester, seine Freunde und Chris, in die er verliebt ist, nachzuholen. So wird er zum Tunnelbauer zwischen Ost und West.

Angst vor Verrat und Hoffnung auf ein Wiedersehen

Auch wenn das Buch, vorgetragen von Nielsen mit eindrucksvoller Erzählstimme, allein schon die Situation, die Angst vor Verrat und die Hoffnung auf ein Wiedersehen fühlen lässt, die gezeigten Fotos und Neumanns Erzählbeiträge sorgen darüber hinaus dafür, dass wohl keiner seine Geschichte vergessen wird. Auf einem Bild sind Nielsen und Neumann mit einem kleinen Teddybären in der Hand vor den Pyramiden zu sehen. Der war bei der Lesung der beiden an der deutschen Schule in Kairo dabei – weil er eine wichtige Rolle in der Geschichte spielt. Denn er zeigte Chris, durch Begegnungen mit der Stasi und Gefängnisaufenthalt misstrauisch geworden, dass die Nachricht, wann sie wo in den Tunnel einsteigen soll, tatsächlich von Neumann kommt. Einst hatte sie ihm das Kuscheltier mit von ihr wieder angenähtem Bein geschenkt. Auch in Wertheim ist der kleine Teddy dabei. „60 Jahre steht er schon in unserer Glasvitrine als Teil unserer Familiengeschichte“, berichtete Neumann. Daraus kann man erahnen, dass das Ganze für die beiden Liebenden gut ausging.

Schwer vorstellbar ist auch die rein physische Leistung der rund 20 Männer, meist Studenten, bei den insgesamt sechs Tunnelbauten. Tagelang gingen sie nicht an die Oberfläche, um nicht entdeckt zu werden, und gruben in Zwölf-Stunden-Schichten durchs harte Gestein. Die Rettungsaktion im „Tunnel 29“ konnte in letzter Sekunde beendet werden, bevor die Anlage unter eindringendem Wasser zusammenbrach. Die Zahl gibt an, wie viele Menschen durch den jeweiligen Tunnel entkamen. Insgesamt gab es in Berlin etwa 70 Versuche, einen Tunnel zu graben, 20 waren erfolgreich.

An sechs Tunneln wirkte Neumann mit, drei waren von Erfolg gekrönt. An jedem Tunnel baute die Gruppe etwa vier bis fünf Monate. Dazu wurden einfache Spaten verwendet. Ein Tunnel – sie hatten sich als Ort die Bernauer Straße ausgesucht – musste mindestens 145 Meter lang sein, um hinter das DDR-Sperrgebiet zu kommen, und in einer Tiefe von vier bis fünf Metern liegen. Der Querschnitt betrug etwa 80 mal 80 Zentimeter. Hinzu kam die stete Angst, verraten und beim Tunnelaustritt direkt von Grenzbeamten erschossen zu werden. In anderen Tunnelbauer-Gruppen sei dies passiert. „Unser Vorteil war, dass niemand dachte, dass wir das schaffen“, schmunzelt der mutige Zeitzeuge heute.

Ein Tunnel wurde verraten und 20 Fluchtwillige wurden verhaftet. Doch letztlich gelangt Chris in der letzten von Neumann mitgebauten Anlage („Tunnel 57“) in den Westen. Die Familie siedelt sich später in Frankfurt an, und in den 1980er war Neumann dann als Projektleiter am Bau der Wertheimer Altstadtgarage beteiligt.

Ein schmaler Grat vom Opfer zum Täter

„Heute gibt es eine gewisse Nostalgie in Bezug auf die DDR, manchen wünschen sich sogar die Mauer zurück – vielleicht nach diesem Kapitel nicht mehr“, leitete Nielsen in ihren Vortrag den Abschnitt über die Haftbedingungen in der DDR ein. Neumann versuchte, trotz allem Verständnis für einige der damaligen Stasi-Mitarbeiter zu wecken. „In so einem Land ist es ein schmaler Grat vom Opfer zum Täter.“

Dieser Aspekt ist auch Nielsen wichtig. „Ich habe manchmal das Gefühl, so richtig wiedervereinigt sind wir noch nicht. Ich wollte ein Buch schreiben, das zur Versöhnung beiträgt. Und die Liebe ist ein Motiv, das jeder versteht“, erklärt sie ihre Beweggründe.

Dass dies gelingen kann, zeigten die Diskussionen im Anschluss an die Lesung. Einige der Besucher hatten selbst ostdeutsche Wurzeln und konnten so den in Westdeutschland Aufgewachsenen von ihren Erfahrungen berichten. Währenddessen signierten Nielsen und Neumann eifrig Bücher.

Insgesamt ein rundum gelungener und tief bewegender Abend, der sicher eindrücklich im Gedächtnis bleibt. Ermöglicht wurde er durch eine Kooperation von Convenartis mit der Stadt, der Stadtbücherei Wertheim und der Buchhandlung Schöningh. Am Folgetag las Nielsen mit Unterstützung von Neumann die Geschichte noch vor den Neuntklässlern der Comenius-Realschule. Zuvor begeisterte sie die Sechstklässler mit ihren spannenden Schilderungen der Versuche, den Mount Everest zu besteigen. „Bekommen wir das Buch?“, wollte ein normalerweise nicht lese-affiner Schüler anschließend wissen.

Eine bessere Möglichkeit, zum Lesen und zur Auseinandersetzung mit der Geschichte zu motivieren, kann es wohl kaum geben.

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