Wertheim/Tauberbischofsheim. Felix Mendelssohn-Bartholdy war ein Titan der deutschen, ja, der europäischen Musikgeschichte – auch wenn der neiderfüllte Richard Wagner und später die Nazis leider ziemlich erfolgreich versucht haben, seine kompositorische und musikhistorische Bedeutung herunter zu spielen. Dass diese Indoktrination lange nachwirkte hat der Schreiber dieser Zeilen selbst erlebt, wurde ihm doch in seiner Jugend beigebracht, Mendelssohn sei zwar kein schlechter Komponist, aber seine Musik doch eher seicht und nicht wirklich gehaltvoll.
Kreativer Komponist
Tatsächlich aber war Mendelssohn nicht nur ein innovativer und kreativer und dabei zugleich kenntnisreicher Komponist, der gleich mehrere Musik-Gattungen neu schuf oder wiederbelebte. Die Orgelmusik verdankt seinen sechs Sonaten und den drei Präludien und Fugen eine Renaissance, das Oratorium erfuhr durch ihn eine neue Blüte, er erfand das „Lied ohne Worte“ – und nebenbei war er in seiner kurzen Lebensspanne für die Wiederentdeckung der Musik Johann Sebastian Bachs und für die Einrichtung der ersten deutschen Musikhochschule verantwortlich. Zugleich war er musikalischer Superstar, der als erfolgreicher Pianist und vor allem Dirigent unermüdlich durch Europa jettete, wobei sein „Jet“ eine Pferdedroschke war.
Am Samstag- und Sonntagabend kann man sich ein Bild davon machen, welche kompositorische und musik-dramaturgische Urgewalt Mendelssohn entfachen konnte. Eine bisher in der Region beispiellose und gleichzeitig beispielhafte Zusammenarbeit der beiden regionalen Bezirkskantorate führte zu zwei eindrucksvollen Aufführungen des Oratoriums „Paulus“ in der Wertheimer Stiftskirche und der Tauberbischofsheimer Martinskirche.
Am Pult standen die katholische Bezirkskantorin Julia Kohler (Tauberbischofsheim), die den ersten Teil des Zwei-Stunden-Werks dirigierte sowie im zweiten Teil ihr evangelisches Pendant, der Ende August scheidende Carsten Wiedemann-Hohl (Wertheim), der damit zugleich seinen musikalischen Abschied gab.
Obgleich beide Chorleiter ihre Chöre, die camerata vocale (Tauberbischofsheim) und die Kantorei der Wertheimer Stiftskirche gut präpariert und an nur einem gemeinsamen Probenwochenende zusammengeführt hatten, zeigten sie sich doch als sehr unterschiedliche Dirigentenpersönlichkeiten. Wo Julia Kohler mit kleinen und präzisen Bewegungen die Klangmassen bändigt, erweist sich Wiedemann-Hohl als fordernder und anfeuernder Dirigent.
Wo Kohler lyrische Passagen, wie zum Beispiel die vom Frauenchor gesungenen Jesusworte, wunderbar gestaltet, schafft Wiedemann-Hohl eine starke Dramaturgie innerhalb der Sätze und der Satzfolgen.
Wie unterschiedlich und doch harmonisch sich die beiden Teile und ihre Dirigate zusammenfügten, ließ sich an den fantastisch komponierten Analogien des ebenso genial gearbeiteten Librettos des Dessauer Theologen Julius Schubring erkennen: Den beiden lyrischen Duetten nach dem Eingangschor der beiden Teile einerseits, und andererseits bei den hochdramatischen „Steiniget ihn“-Chorsätzen mit ihren gewollt schmerzhaften Tritonus-Anfängen im Chor.
Solisten überzeugten
Aus dem Solistenquartett stachen besonders die beiden hohen Stimmen hervor: Sopranistin Anna Feith gefiel als intonationssichere Erzählerin mit – bei Sopranistinnen nicht immer selbstverständlicher – Textverständlichkeit, Tenor Philipp Nicklaus überzeugte sowohl in den lyrischen wie auch in den dramatische Abschnitten seiner Partie. Auch die Basspartie war mit Jakob Mack gut besetzt. Allerdings wurde er als Bariton in der Tiefe gelegentlich vom ansonsten durchaus überzeugenden Orchester etwas übertönt.
Altistin Bianca Schütz hatte mit „nur“ zwei kleineren Arien eine wichtige, aber etwas undankbare Rolle, die sie jedoch angemessen und mit großer Selbstverständlichkeit ausfüllte – um dann wieder zurück in den Chor zu wechseln. Wohl dem Chor, der über solche Altistinnen verfügt.
Eine echte Solorolle erhielt sie jedoch bei der anlässlich ihres runden Geburtstags am Samstag von Chor, Orchester und Publikum dargebotenen „Happy-Birthday“-Zugabe, die Kantor Wiedemann-Hohl eigens für diesen Anlass im Mendelssohn-Stil ausgezeichnet arrangiert hatte. Und so folgten den ersten stehenden Ovationen für das ganze Ensemble gleich noch die zweiten für die Jubilarin – und zweifellos auch für alle weiteren Mitwirkenden.
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