Home Hosting nennt sich der Programmpunkt, den Touristen der Kreuzfahrtschiffe buchen können. Die FN waren bei einem solchen Hausbesuch von US-Amerikanern in einem deutschen Haushalt dabei.
Wertheim. Für „Tourismus“ gibt es das schöne, funktionale, deutsche Wort „Fremdenverkehr“. Viele „Fremde“ kommen nach Wertheim, äußerst geballt strömen sie in die Stadt, wenn eines der riesigen Kreuzfahrtschiffe anlegt. Es sind vor allem Leute aus den Vereinigten Staaten, die das Städtchen an Main und Tauber erkunden – meist Ruheständler, denn länger als zehn Tage in Urlaub fahren, ist für die meisten arbeitenden US-Amerikaner ausgeschlossen – weil sie in der Regel nur sehr wenige bezahlte Urlaubstage zugestanden bekommen. Also warten die Workoholics oft bis zur Rente, ehe sie ausgiebige Reisen unternehmen.
Manche dieser „Fremden“ wollen das Fremdsein etwas abschütteln. Nicht nur eine Führung durch die Altstadt unternehmen oder die mittelalterliche Burganlage bestaunen. Die Reiseveranstalter machen es möglich: Home Hosting nennt sich der Programmpunkt, den die Kreuzfahrttouristen buchen können. Eine Gastfamilie empfängt bei sich zu Hause die Reisenden, die einen authentischen Blick auf die Lebensrealität im besuchten Land bekommen.
„Besuchen Sie das Haus einer einheimischen Familie. Bei einem traditionellen ’Kaffeeklatsch’ gibt es Kaffee und Kuchen. Erfahren Sie, wie das Leben einer typisch deutschen Familie aussieht“, heißt es in der Werbung des Reiseveranstalters.
Seit 20 Jahren am Start
Bestenheid, Breslauer Straße: Feines Kaffeeservice schmückt den Esszimmertisch. In der Mitte zwei US-Fähnchen, mehrere Teller, drapiert mit Apfelstrudel und Waffelstückchen, gekrönt von einer Haube Mokkacreme. Alles ist vorbereitet. Die Hillers warten auf die internationalen Gäste. Für Nervosität gibt es keinen Anlass, denn das Gastgeberpaar hat nach fast 20 Jahren Routine entwickelt. So lange schon empfangen sie in Bestenheid Gäste aus Übersee.
Der Ott-Bus fährt rückwärts in die Stichstraße, an deren Ende sich die Doppelhaushälfte der Familie befindet. Ein typischer Bau aus den 70-er Jahren, als der Stadtteil immer kräftig wuchs. Aus dem Bus steigen acht Leute. Es herrscht eine herzliche Atmosphäre.
In geschliffenem Englisch begrüßen die Hillers ihre Gäste und stellen auch den Reporter der Fränkischen Nachrichten vor, der an diesem Tag als stiller Beobachter dabei sein wird. Es hatte ihn interessiert, wie ein Besuch wildfremder Leute bei Einheimischen abläuft. Insgeheim fragte er sich mit einem Hauch von Sarkasmus, ob das einem „Zoobesuch“ gleichen würde. Die Neugier war geweckt.
Doch Spott ist nicht angebracht, denn gerade in unseren Zeiten erscheint es hilfreich, wenn Fremde sich kennenlernen wollen, sei es auch organisiert von einem Reiseveranstalter, der die Touristen von Amsterdam nach Wien schippert.
Gemeinsames Problem
Nach dem kurzen Hallo geht es in den Garten der Hillers, ein Prachtstück – bestens gepflegt, voller Blumen und Sträucher. „Viele wunderschöne Farben“, schwärmt eine Besucherin. Nur der Rasen ist nicht grün. Ein Phänomen, das schnell zu einem Gespräch über ein gemeinsames Problem führt. Auch jenseits des Atlantiks plagt Trockenheit in unüblichem Ausmaße die Landschaften, ist zu erfahren. Der Klimawandel – natürlich eine globale Herausforderung.
Alltägliches und das große Ganze
Helga und Achim Hiller ernten großes Lob für ihren Garten. Man spricht über die Bewässerung, die bei Hillers ausschließlich aus der Zisterne erfolgt, um den Grundwasserstand und den Geldbeutel zu schonen. Angesprochen auf einen Holzstapel, erklärt Achim Hiller, wo er den Brennstoff herbekommt, wie er angeliefert wird.
Wärme erzeugt das Holz im Wohnzimmer der Hillers, wo ein großer Kachelofen eingebaut ist, der in diesen Zeiten Entlastung bei den Heizkosten sicherstellt. Die Gäste sitzen nun am Kaffeetisch. Zum Apfelstrudel gibt es eine Vanillesoße. Alle, auch die Gastgeber und der stille Beobachter, tragen ein Namensschild: Paula, Luke , Gail heißen drei der Gäste. Die Leute kommen aus Austin, New Orleans, Florida und New York City.
Sie stellen Fragen, die das kleine Alltägliche und die großen Zusammenhänge betreffen: Gibt es ausreichend Einkaufsmöglichkeiten in der Gegend? Wie sieht es mit der medizinischen Versorgung aus? Sind die Preissteigerungen ähnlich rasant wie in den USA? Und überhaupt: Wie wirkt sich Putins Krieg in der Ukraine auf das Leben in Deutschland aus?
Helga und Achim Hiller erklären prägnant und streuen immer wieder persönliche Alltagsgeschichten ein. Die US-Amerikaner staunen über die Spritpreise in Europa, halten jene in den Staaten für extrem hoch: gerade mal einen Euro kostet dort der Liter Benzin.
Neben den Unterschieden stößt man auf Gemeinsamkeiten: Die Altersvorsorge gestaltet sich dort wie hier immer schwieriger. Als Helga Hiller von den Hochwassern in Wertheim erzählt, steuert eine Dame aus Long Island im Staate New York die Geschichte des Hurricanes Sandy bei: 2012 standen dort ganze Viertel meterhoch unter Wasser.
Natürlich sind die Besucher neugierig, was die Hillers so alles erlebt haben. Die Gastgeber können auf einen reichhaltigen Fundus zurückgreifen. Sie haben sich in der Luftfahrtindustrie kennen und lieben gelernt, kamen als Flugbegleiter der Lufthansa um die Welt. Achim Killer erzählt, er habe dabei 35 Millionen Kilometer zurückgelegt – so weit wie über 42 Mal die Strecke zum Mond hin und zurück.
Mission erfüllt
Helga Hiller wird auf die Handwerkskunst angesprochen, welche die Esszimmerwand schmückt. Wer diese „tollen Holzfiguren“ angefertigt hat, wird sie gefragt. Sie selbst war es und erntet Bewunderung dafür. Die Leute staunen über ihre vielfältigen Talente.
Nach über einer Stunde angeregten Austauschs fährt der Bus wieder vor. Die Besucher bedanken sich herzlich für den „Kaffeklatsch“ und werden zu ihrem Kreuzfahrtschiff gebracht, das anschließend flussaufwärts Richtung Main-Donau-Kanal fährt.
Helga und Achim Hiller haben den Besuch aus Übersee genossen, merkt man ihnen an. Die weite Welt, in die sie beruflich und auch privat immer gerne auszogen, war heute bei ihnen zu Hause. Sie und die Gäste sind sich nicht mehr fremd. Man hat etwas Gemeinsames erlebt und versteht einander besser. Mission erfüllt, könnte man sagen.
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