Kembach/Odenwald-Tauber. Als der Himmel sich verdunkelt, sitzen Liz und ihre Oma gerade beieinander und gucken ein Bilderbuch an. „Es wird so dunkel“, bemerkt Liz. Die beiden gehen zum Fenster und schauen hinaus. Sie sehen: fliegende Insekten. Hunderte. Tausende. Sie umschwärmen den Stamm der mächtigen Linde, die einige Meter vom Haus entfernt an der Kembachtalstraße steht.
„Wir wussten erst noch nicht, was für Tiere das sind, und haben dann die Fenster und die Haustür aufgemacht. Es hat sehr laut gesummt, sogar wenn ein Lastwagen vorbeigefahren ist, hat man das Geräusch im Haus noch gehört“, berichtet Barbara Marschka, die schnell zu ihrer Tochter und der Großmutter geeilt war. Die Familie beschließt, sich das Schauspiel draußen anzusehen, auch einige Nachbarn stehen bereits auf der Straße. Eine dreiviertel Stunde beobachten sie fasziniert, wie die Insekten den Baumstamm immer näher umkreisen, sich an den Eingang der Baumhöhle setzen. „Abends um halb sieben – nach ungefähr drei Stunden – waren dann alle Bienen drin“, erinnert sich Marschka, die auch einen Imker aus dem benachbarten Dietenhan benachrichtigte. „Er bestätigt, dass es sich um Bienen handelt.“ Der Imker habe auch darauf hingewiesen, dass es nicht möglich sei, den Schwarm zu diesem Zeitpunkt wieder aus dem Stamm zu holen.
Diese Einschätzung bestätigt der Vorsitzende des Bezirksimkervereins Wertheim, Wolfgang Erbacher, der zuletzt an vergangenen Wochenende einen Schwarm eingefangen hat. „Ich wurde von der Polizei in die Wertheimer Innenstadt gerufen. Dort hatte sich ein Schwarm am Sonnenschirm eines Restaurants gesammelt“, erzählt er. Mit Hilfe eines schmalen Spezialbesens kehrte er die Bienentraube schließlich in einen Schwarmfangkasten. „Der Schwarm folgt immer der Königin, deshalb ist wichtig, dass sie im Kasten ist“, erklärt Erbacher das Vorgehen. Wenn sich ein Bienenschwarm erst einmal in einer Baumhöhle niedergelassen habe, sei das nicht mehr möglich. Auch der Option, die Bienen mit Hilfe von mit Eiern besetzten Waben nach draußen zu locken, räumt er keine Erfolgschancen ein. „Die Arbeiterinnen würden sich zwar um die Brut kümmern und auch die Königin würde ab und zu herausschauen. Die Chance, dass ein Imker genau in diesem Moment vor Ort ist, ist aber sehr gering“, glaubt Erbacher, der während der Schwärmzeit im Mai und Juni regelmäßig Bienenschwärme beobachtet beziehungsweise einfängt. „Die Tiere haben im Frühjahr viel Nahrung gefunden und sich gut entwickelt. Dann ist es wie bei uns Menschen, irgendwann wird’s den Bienen zuhause zu eng und die alte Königin zieht mit einem Teil des Volks aus.“ Der Schwarm sammelt sich zunächst in einem Baum – oder eben unter einem Sonnenschirm. In der Regel passen Imker diesen Zeitpunkt ab und fangen das Bienenvolk ein. „Im Falle der Kembacher Bienen war der Imker nicht so auf Zack“, sagt Erbacher und schmunzelt.
Bleibt der Schwarm in Freiheit, machen sich Spürbienen auf die Suche nach einer geeigneten, dauerhaften Behausung. „Wahrscheinlich lebten in der Linde in Kembach in der Vergangenheit bereits Bienen, das können die Spürbienen riechen.“ Ist eine passende Baumhöhle oder eine Maueröffnung gefunden, zieht der Schwarm um. „Sie putzen die Baumhöhle und bauen dann neue Waben auf, in die die Königin die Eier ablegt. Die Arbeiterinnen beginnen, Nektar zu sammeln. So beginnt der Kreislauf von Neuem.“
Wissenswertes
Ein Bienenvolk durchläuft jedes Jahrvier Phasen , die eng mit den Jahreszeiten verbunden sind. Das Bienenjahr beginnt im August mit den ersten Vorbereitungen für den Winter, Vorräte werden angelegt. Außerdem schlüpfen die Winterbienen , die besonders gut gepflegt werden. Je mehr Bienen im Stock überwintern, desto leichter können sie ihr Zuhause während der kalten Zeit warmhalten.
Wenn ein Bienenschwarm einem Imker „ausbüxt“ und herrenlos auf der Suche nach einer neuen Bleibe ist, gehören die Tiere demjenigen, der sie einfängt.
Weltweit gibt es neun Arten von Honigbienen. In Deutschland lebt die westliche Honigbiene. Im Gegensatz zu Wildbienen, die als Einzelgänger in der Natur nisten, leben Honigbienen als Volk zusammen. kab
Ob die Honigbienen in der Linde den Winter überleben werden, dessen ist sich Erbacher nicht sicher. „Die Überlebenschancen sind gering, denn die Hauptblütezeit ist nun vorbei. Außerdem kann die Varroamilbe dem Volk zu schaffen machen.“ Allerdings kennt Erbacher auch wilde Schwärme, die sich etabliert haben: beispielsweise am Kloster Bronnbach oder am Külsheimer Schloss. Das Bienenvolk, das der Imker in der Wertheimer Innenstadt eingefangen hat, lebt nun dagegen sehr sicher in einer von Erbachers Bienenkästen.
Die Aktion am vergangenen Wochenende sorgte indes für einiges Aufsehen: „Ich hatte viele Zuschauer, die sich gewundert haben, dass ich den Schwarm ohne Schutzanzug im T-Shirt einfange. Aber die Bienen sind allgemein sehr friedlich. Die schwärmenden Bienen sind zudem sehr satt. Niemand müsse Angst vor den Insekten haben, betont der Experte. Familie Marschka hatte ohnehin keine Berührungsängste mit ihren neuen Nachbarn: „Wir freuen uns, dass sie dort ihr neues Zuhause gefunden haben. Liz überprüft jeden Tag nach dem Aufstehen, ob die Bienen noch da sind.“
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