Weikersheim. Vor vier Jahren ist die aus der Tauberstadt stammende Physiotherapeutin Isabelle Roller einem Verein beigetreten, den kaum jemand kennt. Das ist schade, denn „Watoto wa Nest e.V.“ leistet für „The Nest Childrens Home“ in Kenia eine ganze Menge: Er sammelt Spenden für das in den 90er Jahren von Irene Baumgartner gegründete Präventions- und Reintegrationsprogramm für Kinder in Not und inhaftierte Mütter. Darüber hinaus vermittelt der Verein Freiwillige, die mithelfen, die Not zu lindern.
Isabelle Roller lernte den Watoto wa Nest-Förderverein und das „Nest“ 2018 bei einem dreimonatigen Freiwilligen-Einsatz kennen. Was sie während dieser drei Monate erlebte, beeindruckte sie tief: Im 1997 gegründeten Nest-Kinderheim in Limuru, einer kleineren Stadt bei Nairobi, traf sie Kinder mit schweren Deformationen. Wenn sie ins „Nest“ kommen, seien sie nach Gewalt-, Not- und Missbrauchserfahrungen oft völlig verstört und unterernährt. Etliche leiden an Deformationen, leben mit verkrüppelten Gliedmaßen, können nur schwer aufrecht gehen. Als Physiotherapeutin konnte Isabelle Roller etwas Leid lindern, Deformationen behandeln, mit Massagen Gelenksteifigkeiten lindern und den Nest-Mitarbeitern einen Teil ihres Wissens vermitteln.
Kinder oftmals mit Deformationen
Sie wollte mehr über die Ursachen der Probleme erfahren. Oft, so wurde ihr berichtet, seien es Kinder extrem junger Mütter, und die Deformationen ließen sich häufig auf Inzucht zurückführen – genauer: darauf, dass die jungen Mädchen von ihren eigenen Vätern vergewaltigt worden seien. Viele der leidenden Kleinen seien zudem viel zu früh auf die Welt gekommen, kein Wunder bei unterernährten, physisch und psychisch misshandelten Müttern, die selbst noch Kinder sind.
Auf das „Nest“-Projekt hatte eine Bekannte Isabelle Roller aufmerksam gemacht. Sie informierte sich, wie sie bei einem Freiwilligeneinsatz nach Abschluss ihrer Ausbildung zur Physiotherapeutin helfen könnte. „The Nest“ braucht immer Hilfe, besonders für den medizinischen, pädagogischen, sozialen und handwerklichen Bereich, Menschen, die sich nicht scheuen, auch mal in der Küche, bei der Wäsche, in der Schule, beim Füttern oder Wechseln der Windeln mitzuhelfen oder Sport und Spiele zu organisieren. Das „Nest“ ist eine eingetragene, ausschließlich über private Spenden finanzierte Stiftung in Kenia. Ohne ehrenamtlich Helfende wie Isabelle Roller wäre es dem inzwischen mit Kinderheim, Säuglingsheim und Mütterzentrum dreigliedrigen Hilfsprojekt nicht möglich, die Herausforderungen zu meistern.
Mütter in Haft
Im jüngsten Zweig, dem Säuglingsheim „Nest Baby Village“ werden seit 2014 elternlos aufgefundene Babys betreut. In der ersten Einrichtung, dem 1997 speziell für die Kinder inhaftierter Mütter gegründeten Heim, finden aktuell an die 100 in Not geratene Kinder zwischen drei und 18 Jahren Zuflucht, medizinische Versorgung, liebevolle Betreuung und die Möglichkeit, eine Schule zu besuchen, was zumindest eine Chance bietet, als Erwachsene nicht auf der Straße leben zu müssen.
Wieso die Mütter in Haft seien, wollte die junge Physiotherapeutin aus Deutschland wissen. Oft gehe es um kleinere Diebstähle oder Prostitution aus Not, wurde ihr berichtet. Das Mütterzentrum „Halfway House“ wurde 2006 in Nairobi eröffnet. Hier helfen Sozialarbeiterinnen aus der Haft entlassenen Müttern dabei, neu Fuß zu fassen und im geschützten Raum wieder mit ihren Kindern zur Familie zusammen zu wachsen.
Auf einfaches Leben einlassen
„The Nest“ will genau das sein: ein beschützendes Nest für die Mütter, ihre Kinder und die immer wieder auch in Straßengräben oder neben Mülltonnen aufgefundenen, manchmal nur wenige Stunden alten Säuglinge.
Für die junge Deutsche war es 2018 eine gewaltige Umstellung, drei Monate lang im „Nest“ unter ganz anderen Bedingungen zu arbeiten. Auch die Helfenden lassen sich auf das einfache Leben ein: Waschschüssel statt warmer Dusche, Fleischspeisen allenfalls an Feiertagen, wenig Privatsphäre.
Als sehr extrem erlebte Isabelle Roller die Unterschiede zwischen Arm und Reich: Hie vereinzelt cleaner Luxus, da extrem vermüllte, bitter arme Ecken, in denen sich der Gestank von verrottendem und verbranntem Müll in Abgaswolken mischt. Fast noch größer aber sei bei der Heimkehr der Kulturschock gewesen: Schon auf dem Flughafen empfing sie europäisch-vorweihnachtlicher Glitterluxus. Für die damals kaum 20-Jährige war klar, dass ihr erster Freiwilligeneinsatz nicht ihr letzter gewesen sein könne. Sie habe dort wirklich eine Art zweiter Familie gefunden, erzählt Isabelle Roller. 2019 buchte sie erneut einen Flug Richtung „Nest“, dieses Jahr wieder. Jeweils zwei Wochen lang unterstützte sie in ihrem Urlaub die Mitarbeiter und Schützlinge der „Nest“-Familie.
Fast grenzenlos ist ihre Bewunderung für die Gründerin und Leiterin Irene Baumgartner, die auch mit 69 Jahren täglich gut zwölf Stunden in den „Nest“-Einrichtungen ackert, dafür sorgt, dass bei den Hauseltern, in Schule, Küche und der kleinen Landwirtschaft – die größeren Kinder helfen beim Gemüse- und Obstanbau sowie der Versorgung der wichtigen Ziegen und Hühner mit – , alles glatt läuft. Heilfroh ist die Leiterin, wenn sich mal eine Krankenschwester oder Hebamme für einige Wochen zum Freiwilligendienst meldet.
Wie alle Freiwilligen, die der internationale Förderverein „Watato wa Nest e.V.“ in „Nest“-Einsätze vermittelt, zahlte auch Isabelle Roller Flug und Aufenthalt aus eigener Tasche. Und wie die meisten Freiwilligen schloss auch sie sich dem Förderverein an, übernahm zunächst als Schriftführerin, inzwischen als zweite Vorsitzende Vereinsaufgaben.
Dass aktuell zwei „Nest“-Schützlinge in Deutschland eine Ausbildung absolvieren können, ist für Isabelle Roller Grund zu großer Freude: Eine junge Frau will anschließend als Krankenschwester zurück ins Projekt, ein angehender Elektriker könnte sich später in Kenia selbständig machen und anderen „Nest“-Schützlingen Arbeit geben.
Mehr über die Betreuungs-Versorgungs- und Bildungsarbeit von „The Nest Childern’s Home“ gibt’s auf der Homepage www.thenesthome.org. Wer Fragen zum Förderverein „Watato wa Nest“ hat oder selbst einen Freiwilligeneinsatz in Erwägung zieht, kann sich direkt an den Vorsitzenden Christian Berndlmaier (E-Mail: watotowanest@gmail.com) wenden.
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