Weikersheim. Es gibt sie, diese Gnadenstunden – rare, kostbare Augenblicke, die sich fast nicht vergessen lassen. Der Konzertabend mit Starpianist Grigory Sokolov, der bereits zum zweiten Mal in der erst fünf Jahre zählenden Geschichte der TauberPhilharmonie in Weikersheim gastierte, beschenkte das Publikum im ausverkauften Haus mit nicht nur einer, sondern gleich zweien dieser Gnadenstunden.
Vom ersten Augenblick an schlug er sein Publikum in einen regelrechten Bann. Ob Klassikfan, leidenschaftlicher Klavierliebhaber oder ansonsten eigentlich ganz und gar Anderem zugewandt: Diesem mit seinem Instrument fast schon eineiig verbundenen Pianisten, diesem Klangzauber, diesen so ureigenen, teilweise jeder Hörgewohnheit entgegenstehenden Interpretationen kann sich schlicht niemand entziehen.
Kaum hat er Platz genommen, legt er los, kaum macht er Anstalten dazu, verstummt auch brandendster Applaus, werden die Hundertschaften im voll besetzten Konzertsaal so mucksmäuschen-abgeschaltet still, dass nicht einmal ein Federchen mehr ungehört zu Boden fallen könnte: Ein Zauberer, es kann nicht anders sein.
Doch zum Programm: Angekündigt waren Bach und Mozart, statt auf papiernes Infomaterial setzte das Konzerthausteam aus Nachhaltigkeitserwägungen erstmals auf eine Programm-Einblendung im Bühnenhintergrund. Kaum ein Besucher, dem das nicht genügte.
Bach, Johann Sebastian – man glaubt ja, ihn zu kennen. Und dann mit Sokolov: ein Tanz auf dem Vulkan, schon bei den vier Duetten, die Köchel unter den Nummern 802-805 verzeichnete. Man muste schon sehr genau hinhören, um die Zäsuren zwischen e-Moll, F-Dur, G-Dur und dem abschließenden a-Moll nicht erst im Lauf der Klänge zu erkennen. Drive, Spannung und unerhörte Dynamik im Duetto No.1, schlicht, heiter, perlend das zweite, ein Lächeln vor nicht ganz so hellem Hintergrund das dritte und mit dem Ausdruck unsagbarer Trauer, das vierte der Duettos. Bach – alt? Nichts da: Sokolovs Bach ist jetzt, ist Augenblick.
Tosender Beifall
Schon hier der Beifall tosend, und, wie gewohnt bei Sokolov, die Verbeugung nicht vor, sondern ganz gleichberechtigt fast schon hinter dem Instrument, nur knapp. Und weg ist er, kaum dass das Klatschen noch sein Ohr erreicht.
Dann die Partita II c-Moll, BWV 826: Und wieder hat es Sokolov so eilig, der Musik zu folgen, dass man als Lauscher sich ganz leicht verfransen kann zwischen Allemande und Courante, Sarabande, Rondeaux und Capriccio.
Da folgt auf sinfonische Dichtung in höchster Dramatik heiteres Aufschwingen, furioser Lauf in schier unglaublichem Fingerflugtempo: Nie und nimmer hätten da Instrumente zu Lebzeiten Bachs mithalten können, die Saiten wären dem Interpreten nur so um die Ohren geflogen. Am Steinway – peinlichst genau achtet der Pianist auf die für jedes noch so absolute Gehör perfekte Stimmung – meistert Sokolov halsbrecherischste Kapriolen des Komponisten, findet tiefste Gründe, höchstes Strahlen, erklimmt steinigste Gipfelhöhen geschafft, gestaltet vulkanische Ausbrüche ebenso wie das fitzelfitzelleise Trippeln einer Ameise auf einem Blättchen.
Sokolov und Bach: das ist Abstraktion ebenso wie Tiefseetauchen in wildesten Strudeln, ist mehr als Interpretation, fast Co-Komposition. Nein, leichte Kost ist es nicht, die Sokolov bietet: Er fordert seinem Publikum höchste Konzentration bis zur Anstrengung ab – und wird genau dafür geliebt, gepriesen, fast schon angebetet – und das alles mit vollstem Recht.
Ruh – Pause. Durchatmen. Und weiter – etwas leichter konsumierbar, gefälliger und seitens des Pianisten, der bei seinen Bachinterpretationen fast nur die Bewegung der Finger zuließ, jetzt auch etwas bewegter: Mozart. Wie Sekt perlen die Klänge, Läufe geraten zu hoch verdichteten Flügen, komprimiertem Klangkondensat, ohne dass auch nur ein einzelner Ton je verloren ginge. Weich, fast sinnierend, zu Tränen rührend ohne auch nur einen Sekundenbruchteil mollig zu werden, das Andante cantabile, unglaublich heiter und leicht das Allegretto grazioso, in dem fordernd klare Akzente feinst umspült werden wie in Gebirgsbächen liegende Steine von sommerlich tänzelndem Tropfengeweb.
Und das h-Moll-Adagio KV 540? Hoch modern, zwischen Dissonanzen, eng gesetzten Intervallen, fragende Interpreten-Selbst- und Trigespräche mit dem Komponisten, auf Wegen von verzweifelter Trauer zu berstender Glorie – ein musikalischer Kommentar zur von Kriegen und Gemetzel durchzogenen Gegenwart, zum Drama der Menschheit, des Menschseins. Das Schlussecho darf verhallen, ehe das Publikum Atem schöpft für den Beifallssturm.
Und dann: Sokolovs legendärer schon Zugaben-Dank – und er spielt jetzt wie losgelassen, schöpft aus fast unendlichem Vorrat. Jean-Philippe Rameaus „Les Sauvages“, Frédéric Chopins „Regentropfen-Prélude“ und das „Prelude op 23 no 2“ von Sergei Rachmaninow, Chopins F-Moll-Mazurka (op 63 no 2) und „Le Tambourin“.
Kaum einer im Publikum, den es noch auf dem Sitz hält. Und wirklich: Noch eine Zugabe – Rundschluss zum Anfang: Bachs Prelude B-Moll BWV 855a.
Welche Vielfalt, welch ein Erlebnis. Noch Stunden und Stunden hätte das Publikum zu gern gelauscht. Ein Blick auf die strahlenden Gesichter der Konzertbesucher, die den Saal nur widerstrebend verlassen, verrät: sie gehen nicht nur beglückt nach Hause, sondern schweben trotz Sturm und Regenguss regelrecht heimwärts.
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