Badische Landesbühne

Tauberbischofsheim: Weitgehend auf klassische Dialoge verzichtet

Roman „Heimsuchung“ als Multimedia-Performance auf die Bühne der Stadthalle gebracht.

Von 
Felix Röttger
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Eine starke Geschichte vom Haben und Verlieren: Die Inszenierung nach Jenny Erpenbecks Roman „Heimsuchung“ in der Stadthalle Tauberbischofsheim. © Röttger

Tauberbischofsheim. Die 1967 in Ostberlin geborene Autorin Jenny Erpenbeck veröffentlichte 2008 ihren viel beachteten Roman „Heimsuchung“; ein literarisches Mosaik deutscher Geschichte, das inzwischen zum Kanon der Abiturlektüre 2026 zählt. Inspiriert von persönlichen Erinnerungen an das Sommerhaus ihrer Großeltern am Scharmützelsee verdichtete Erpenbeck darin ein Jahrhundert deutscher Umbrüche zu einem poetischen Mikrokosmos: Von der Weimarer Republik über den Nationalsozialismus und die DDR bis zur Wiedervereinigung und der Nachwende wurde das Haus zum stillen Zeugen politischer Erschütterungen und individueller Verluste.

Die Badische Landesbühne brachte das Werk unter der Regie von Daniel Schüßler und Hanna Held als Multimedia-Performance auf die Bühne der Tauberbischofsheimer Stadthalle. Die Bühnenfassung ließ es mit einem Urschrei der Dinosaurier deutlich lockerer angehen als die Romanvorlage, die mit der geologischen Entstehung des märkischen Sees beginnt. Ein surrealer Moment, der sofort für Aufmerksamkeit im Publikum sorgte. Danach folgte ein Parforceritt durch ein Jahrhundert deutscher Geschichte, erzählt anhand eines knappen Dutzends Lebensläufe. Im Roman sind es fünfzehn.

Bemerkenswert: In Tauberbischofsheim standen mit Evelyn Nagel, Nadine Pape, Michael Johannes Mayer, Lasse Claßen und Madeline Hartig lediglich fünf Protagonisten auf der Bühne– letztere musste kurzfristig für Laura Brettschneider einspringen und las ihre Rolle größtenteils vom Blatt, doch das störte kaum. Da die Inszenierung weitgehend auf klassische Dialoge verzichtete und stattdessen auf chorische Passagen, Erzähltexte und körperliche Präsenz setzte, fügte sich auch das Ablesen organisch in das fragmentarische Erzählkonzept ein. Es unterstrich sogar die Idee des Vorläufigen, des Erinnerns im Moment – ganz im Sinne von Erpenbecks poetischer Struktur.

Den Text nicht illustrativ nacherzählt

Irritiert könnten Liebhaber des Romans gewesen sein, weil die Inszenierung den Text nicht illustrativ nacherzählte, sondern die Geschichten neu verhandelte. Der innere Film des Zuschauers wurde durch neue Perspektiven ersetzt – eine zweite Begegnung mit dem Stoff, die andere Stimmungen und Emotionen hervorrief. Halt gaben auch keine optisch klaren Zeitangaben auf der Leinwand, die lediglich die namenlosen Figuren aufführte. Mit sensibler Bildsprache, präziser Figurenzeichnung und atmosphärischer Dichte gelang es der Inszenierung, die zeitlose Relevanz von Erpenbecks Werk erfahrbar zu machen. Abrupte Schnitte bei starker Verdichtung hätten die eine oder andere dramaturgische Atempause verdient gehabt.

Ein besonders eindrückliches Bild war das große Schild „Germania“, das drohend seitlich über der Bühne prangte. Die Inszenierung nutzte es nicht als patriotisches Emblem, sondern als kritisches Symbol: Was bleibt von „Germania“, wenn die Geschichten neu verhandelt werden? Was bedeutet Heimat, wenn die nationale Erzählung angesichts dunkler Kapitel deutscher Geschichte fragwürdig wird?

Das statische Bühnenbild von Eva Sauermann war schon fast mit starker Symbolik überladen. Zwei Spiegelflächen, durchzogen von einem Spalt, gaben den Blick frei auf eine wuchtige Abrissbirne – ein Bild, das Erinnerungen, Brüche und die disruptive Kraft der Vergangenheit in sich vereint. Die Spiegel reflektierten nicht nur die Figuren, sondern auch die Zuschauer, die sich vielleicht mit den Rissen im eigenen Leben konfrontiert sahen. Die Schräglage der Bühne wurde zum metaphorischen Bild für unsichere, instabile Verhältnisse und drohendes Abrutschen in die Katastrophe. Nur an den Rändern der Geschichte gab es nicht selten den Halt, um nicht ins Straucheln zu kommen.

Der Fuchs, als wiederkehrendes Motiv, schlich sich wie ein Schatten in die Szenen. Seine Imitation durch die Darsteller verstärkt die Atmosphäre latenter Gefahr und verweist auf Bedrohung und ständige Anpassung in der Natur. Die Figuren blieben flüchtig, die Eindrücke überbordend; nur das Haus hielt stand. Das Anwesen litt, es schwieg und es verzieh. In seiner stillen Präsenz spendete es Trost, verbarg gleichzeitig die Verbrechen in seinem Gemäuer. Ein Mikrokosmos als Spiegel der Geschichte mehrerer Generationen.

Figuren einer Heimsuchung

Die Hauptfiguren der Inszenierung spiegelten die Brüche des 20. Jahrhunderts in exemplarischen Lebensläufen. Da war der autoritäre Großbauer mit seinen vier Töchtern, der auf Karriere bedachte Architekt, der als Profiteur der Arisierung am See sein Refugium errichtete, und seine Frau, die bei Kriegsende in einem Wandversteck „diese eine Nacht“ mit einem 17-jährigen Major überlebte. Ein Rotarmist, der sich für die Ermordung seiner Familie rächen wollte, sah plötzlich in dieser Frau seine Mutter – ein Moment von erschütternder Ambivalenz.

Zentrale Bedeutung hatte der jüdische Tuchfabrikant, der 1936 auf sein Erbe verzichtete und nach Südafrika auswanderte, während seine Eltern und die Familie seiner Schwester von den Nationalsozialisten ermordet wurden. Ludwigs Nichte Doris erlebte am See eine kurze glückliche Kindheit, wurde ins Warschauer Ghetto deportiert und später ermordet. Es tauchte eine Schriftstellerin auf, die Stalins Russland überlebte und nach ihrer Rückkehr in die DDR im Haus am See weiter schrieb. Später erschien eine „unberechtigte Eigenbesitzerin“ – die Enkelin der Schriftstellerin, die vom Haus und gleichzeitig von ihrer Kindheit Abschied nehmen musste.

So wurde das Haus zum stillen Zeugen einer wechselvollen Geschichte, die sich nicht linear, sondern in Schichten und Brüchen entfaltete. Am Ende des Romans wird es abgerissen – die Regie ließ die Spiegelflächen von der Bühne tragen und verdichtete damit noch einmal das Unabänderliche von Vergänglichkeit und Wandel. Starker Beifall galt einer nachdrücklich unbequemen Inszenierung, die nicht beruhigte, sondern zur Auseinandersetzung aufforderte.

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