Tauberbischofsheim. Eindrucksvolle 108 Kilometer lang war die zusammenhängende Menschenkette, an der sich je nach Quelle zwischen 250 000 und 400 000 Menschen beteiligten und mit der damals, am 22. Oktober 1983, der süddeutsche Zweig der Friedensbewegung ein Zeichen (das natürlich auch als politisches Druckmittel gedacht war) gegen die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen auf westdeutschem Gebiet setzte. Die Maßnahme war als Antwort auf die Stationierung neuer „SS 20“-Mittelstreckenraketen auf dem Gebiet des damaligen Warschauer Pakts gedacht und stand im November desselben Jahres im Bundestag zur Entscheidung an. Es war eine aufgeregte, aufwühlende Zeit damals Anfang der 1980er Jahre, als der damalige US-Präsident Ronald Reagan die Spirale des gegenseitigen Wettrüstens – angeblich auch nur als Reaktion auf die vorhergegangene sowjetische Hochrüstung – in neue Höhen hinauftrieb und viele Deutsche aus allen Bevölkerungsschichten, Ältere wie Jüngere, Deutschland als Schauplatz eines kurz bevorstehenden nuklearen Schlagabtauschs sahen.
Cäcilie Kowald (Jahrgang 1973) aus Karlsruhe, ihres Zeichens Autorin, Musikerin, Beraterin, Projektleiterin und „Grenzgängerin“ hat den Herbst als damals Zehnjährige zusammen mit ihren friedensbewegten Eltern erlebt und ein Buch darüber geschrieben, aus dem sie im Tauberbischofsheimer Engelsaal beim Kunstverein Passagen vortrug und persönliche und geschichtliche Hintergründe erläuterte. Immerhin ein gutes Dutzend Interessierte hatten sich zu dieser Lesung eingefunden. Das Buch ist gut und anschaulich lebensnah geschrieben. Anhand einer Reihe fiktiver Personen, die kurz anhand ihres unterschiedlichen Alters, beginnend von der Schülerin bis hin zum ehemaligen Weltkriegsteilnehmer, ihrer Herkunft, Mentalität und unterschiedlichen Prägung geschildert werden, gelingt es der Autorin die gemeinsamen und divergierenden Motive der Hunderttausende, die zu dieser einmaligen Menschenkette zusammenkamen, herauszuarbeiten und verstehbar zu machen. Ihr zufolge bildete die Menschenkette einen ziemlich genauen Querschnitt der bundesdeutschen Bevölkerung Anfang der 1980er Jahre ab, war zugleich das Ergebnis einer einmaligen geschichtlichen Situation (weshalb sie auch nie wiederholt werden konnte). Cäcilie Kowald hat nach eigener Aussage im Erwachsenenalter selbst Demonstrationen organisiert, war natürlich enttäuscht, dass sie nie auch nur eine entfernt vergleichbare Anzahl von Teilnehmern aufwiesen wie bei diesem ersten prägenden Erlebnis. So ist auch nicht verwunderlich, dass diese große Zeit der deutschen Friedensbewegung in diesem Buch in einem etwas romantisierenden oder auch idyllisierenden Licht erscheint. Etwas wie ein deutsches „Woodstock“ lag damals in der Luft, eine kurzlebige Euphorie und generationenübergreifende Sehnsucht.
Was zumindest in den Passagen dieser Lesung fehlte, war die Einbeziehung der damaligen politischen Gesamtlage in Deutschland, Europa und der Welt, etwa, dass die eigentliche Entscheidung über die „Nachrüstung“ bereits im März 1983 gefallen war, als die Regierung Kohl/Genscher, die eine Raketenstationierung befürwortete, in einer vorgezogenen Bundestagswahl klar bestätigt wurde. Die notwendige parlamentarische Mehrheit dafür war damit gesichert, der Friedensbewegung ihr ursprüngliches Ziel abhanden gekommen. Es blieb eine machtvolle Demonstration, eine Selbstfeier und Selbstbestätigung aller Friedensbewegten, die auch über ihre faktische Ohnmacht ein wenig hinwegtäuschte, eine Ohnmacht, die sie leider auch knapp 40 Jahre später im Zeichen des Kriegs in der Ukraine wieder schmerzlich erfahren muss. the
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