Tauberbischofsheim. Grenzen der Inklusion - gibt es sie wirklich und wo sind sie? Dieser Frage ging zum Jubiläum der Verein der gemeindenahen Psychiatrie im Main-Tauber-Kreis eine Vortrags- und Diskussionsveranstaltung im Winfriedheim auf den Grund. Fazit des gut zweistündigen Abends: Das Thema Inklusion entscheidet sich im Kopf aller Handelnden. Und die Hilfe für Betroffene muss möglichst frühzeitig einsetzen. Hilfen am Arbeitsplatz, um in der gewohnten Umgebung bleiben zu können sind äußerst wichtig, werden aber viel zu wenig geboten.
Nach einer kurzen Vorstellung der Geschichte der gemeindenahen Psychiatrie in Tauberbischofsheim bis hin zur jetzigen Verschmelzung der beiden Vereine "Die Brücke" und "Phönix" zum VOP von Gisela Authmann-Bopp ging Karl Schütze von der Berliner Einrichtung "Kumm Rum" der Frage nach den Grenzen der Inklusion nach. Eigentlich kam diese Einrichtung aus der Anti-Psychiatrie-Bewegung, die sich gegen große Krankenhäuser richtete. Er zollte der hier geleisteten Arbeit über vier Jahrzehnte hinweg hohen Respekt.
Als Grundlagen für die gemeindenahe Psychiatrie sah Schütze die "Enthospitalisierungsprogramme" in den 70er Jahren und das Aufkommen des Inklusionsbegriffes mit dem Ziel, keine Sondereinrichtungen für Menschen mit seelischen Erkrankungen mehr schaffen zu wollen. Als Irrweg entpuppte sich schließlich die biochemische Behandlung erkrankter Menschen. Vielmehr sollte die Richtung dahin gehen, die menschliche Sozietät zu stärken und Betroffenen möglichst früh umfassende persönliche Hilfe zur Verfügung zu stellen. Auch stünden wirtschaftliche Interessen im System einer Effektivität oft entgegen.
Sinnvoll ist es, so Schütz, alle Hilfen in die individuelle Lebenswelt der Erkrankten zu integrieren, wobei eine sozialräumliches Budget wünschenswert wäre.
Große Probleme sieht Schütze vor allen in Städten auf dem Wohnungsmarkt. "Es gibt keinen Anschlusswohnraum mehr." Deshalb blieben die Menschen viel zu lange in teuerer Betreuung oder enden in der Obdachlosigkeit. Eine weitere Baustelle: "Der Arbeitsmarkt wäre der Dreh- und Angelpunkt für echte Inklusion." Zu beobachten sei aber das genaue Gegenteil. Als interessante Entwicklung sieht Schütze die vermehrte Selbstbestimmung in der Psychiatrie. Mit der Ausbildung von Genesungsbegleitern ändere sich der Blickwinkel zum Positiven. Es sei noch viel zu tun, aber "Man riecht Gestaltungsduft."
Diskussion
Bei der anschließenden Podiumsdiskussion erwies sich Alfred Hegener vom Paritätischen Baden-Württemberg als gut informierter Moderator und Stichwortgeber.
Als Sprecher der Psychiatrieerfahrenen plädierte Rainer Höflacher dafür, Betroffene dort abzuholen, wo sie leben. Mit einem gönnerhaften "wir inkludieren Euch" sei niemandem geholfen. "Die Gesellschaft muss den Menschen etwas bieten."
Jürgen Gotthard als Leiter des Jugendamtes im Main-Tauber-Kreis verwies auf die gesetzlichen Grundlagen, nach denen Behörden handeln müssen. Hier seien eventuell Änderungen nötig. Als Problem sieht er den enormen Kostenanstieg, den die Kreise schultern müssten.
Beim Thema "Bundesteilhabegesetz" verwies der Direktor des Amtsgerichts Tauberbischofsheim, Dr. Alexander Jörg, auf den großen organisatorischen Aufwand bei der Umsetzung.
Auf eine gewisse Aufbruchstimmung in der gesamten Psychiatrie wies Dr. Mathias Jähnel, Leiter der Abteilung Psychiatrie, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Krankenhaus Tauberbischofsheim hin. "Wir wollen die großen Häuser verkleinern.". Dazu seien Netzwerke nötig, die es im Main-Taube-Kreis gebe. Allerdings mahnte er auch an: "Wir haben im Augenblick zu kämpfen, um Erreichtes zu bewahren." Wichtig sei, die ambulante Versorgung zu verbessern.
Was sich sehr stark verändert habe, sei die Arbeitswelt. Wer nicht mehr 100 Prozent Leistung bringen kann, falle durchs Sieb. Und das betreffe viele psychisch Kranke. Eine solche Sichtweise schließe eine wirkliche Inklusion aus. "Hier stehen wir auch vor einer neuen Welle der Altersarmut."
Auf das Thema "Inklusion in Schulen" ging Jürgen Gotthard ein. Hier gab es viele Eltern, die vehement die Einschulung ihrer Kinder in einer Regelschule forderten. Aber: Land und Schulamt besorgen zwar die Zuweisungen, es gebe aber keine ausreichende Deputatverschiebung von der Sonder- zur Regelschule. Die an diesen Schulen dann zusätzlich nötigen Assistenzleistungen müssen vom Sozialamt des Kreises finanziert werden.
Für die Betroffenen sei es insgesamt besonders wichtig, ihren Lebensmittelpunkt und ihr Umfeld behalten zu können. Damit dies möglich ist, müsse der Gedanke der Inklusion zum Beispiel auch in den Köpfen von Vermietern oder auch den Nachbarn ankommen, so Alfred Wolfert, Mitarbeiter und Geschäftsführer der VOP. In die gleiche Richtung argumentierte Rainer Höflacher. "Die Gesellschaft muss die Inklusion wirklich wollen."
Karl Schütze: "Wir sollten mit Betroffenen reden, nicht über Betroffene."
Am Ende des Abends durften die Zuhörer ihre Wünsche für die Zukunft des Themas "Inklusion" äußern. Verstärkte Jugendarbeit wurde angesprochen, wie auch ein Wiederaufleben der nachlassenden Bereitschaft zu ehrenamtlicher Arbeit.
Ein interessanter Ansatz: Das Thema sollte ähnlich wie zuletzt die Hilfe für Flüchtlinge behandelt werden, indem ein Prozess auf breiter Basis in Gang gesetzt werden könnte. Interessenten konnten sich in eine Liste bereits eintragen.
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