Eine hinreißende Komödienpremiere feierte das Russland-Deutsche-Theater im Amtshaus Oberstetten. Mit dem Stück „Anderthalb Stunden zu spät“ begeisterten Maria und Peter Warkentin das Premierenpublikum.
Niederstetten. Lange musste das Warkentin-Publikum auf eine weitere Premiere des Schauspielerpaars warten: Corona und Co., was auch sonst. Höchste Zeit also, dem Publikum Neues und angesichts anstrengender Zeiten Heiteres zu bieten.
Sie lieben es, Paare zu spielen, greifen gern die Leichtigkeit französischer Autoren auf. Jetzt „Anderthalb Stunden zu spät“, die vor knapp zwei Jahrzehnten entstandene Komödie von Gérald Sibleyras und Jean Dell.
Der Plot ganz schlicht: Gatte wartet auf Ehefrau. Ungeduldig. Hut und Mantel parat, wiederholter Blick auf die Uhr. Die vom schweigenden Gedrängel genervte Gattin braucht noch Zeit. Wer kennt das nicht – in dieser oder auch umgekehrter Rollenverteilung?
Na gut, an diesem Abend geht es um Besonderes: Pierre hat kurz vor Eintritt in den Ruhestand seine Anteile der Steuerkanzlei an seinen Partner verkauft, der jetzt zur Feier des Geschäftsabschlusses zum kleinen Diner lädt. Einfach köstlich halten Maria und Peter Warkentin schon in der ersten, wortlosen Szene dem glucksenden Publikum den Spiegel vor.
Perfekt gestresst
Perfekt gestresst Gattin Laurance, mit Rügeblick durchs Zimmer hektikend, perfekt sich gerade noch im Zaume haltend der seit gut 30 Jahren aufs Zuwarten trainierte Ehemann Pierre. Bereit? Noch nicht.
Und überhaupt. Es geht nicht. Laurance im Streik: Unmöglich. Unmöglich, an genau diesem Abend, an dem der jüngste Sohn auszog, das erste Enkelkind das Licht der Welt erblickte und ihr glasklar vor Augen steht, das jetzt nur noch das Warten auf ihr Ende ansteht, diesen Personen beim Smalltalk gegenüberzusitzen. Alle Versuche Pierres, die Gattin zum Aufbruch zu bewegen, scheitern. Sie will nicht. Punkt. Sie will was anderes: Reden. Mit ihm. Akuten Welt- und Lebensschmerz teilen.
Das Fünf-Minuten-Angebot: zu knapp. Pierre erhöht auf zehn, dann eine halbe Stunde. Auch die wird schwerlich reichen, denn seine Gattin fand sich unversehens in noch staubenden Zusammenbruchsruinen ihrer Bisher-Welt als Mutter, Repräsentantin und Hausfrau mit Personal. Was ist aus ihrem Super-Uni-Abschluss, was aus den künstlerischen Ambitionen geworden, die der Gatte bestenfalls als Schmuckblatttitel und Zeitvertreib wahrnahm?
Alles muss auf den Tisch, ganz genau jetzt, Geschäftsdinner-Einladung her oder hin. Der anstehende Ruhestand des emsigen Geschäftsmannes und der noch völlig ungeklärte Umgang damit, die der Gattin fehlende Aufgabe, die Geschichte der Ehe samt wohl- und weniger wohlmeinender Lügen, die manchmal allzu faulen Kompromisse, die geschlossen wurden, die durch Familien- und Repräsentationspflichten schon vor dem Start ausgebremste Karriere der eigentlich zur Arbeit, ja zur Ministerin berufenen Ehefrau, imaginierte oder reale Ehebrüche und Ausplauderei privatester Geheimnisse…
Eine wahre Wonne
Es ist eine wahre Wonne, wie Maria Warkentin sämtliche Gefühlsfacetten der Gattin auf die Bühne bringt, wie sie unterdrückt aufschluchzend ums Bleiben bettelt, das Nein zum Aufbruch von Drama-Queen bis zur naiv-keck Flirtenden in diesen anderthalb Stunden Echtzeit-Theater auf die Bühne bringt, plötzlich die Emanze hervorholt, die auf ihr Lebensfreiheitsrecht pocht, die brennende Künstlerin, die das Wohnzimmer in ein Atelier verwandelt, ohne dabei zu vergessen, Untersetzer für Weinglas und Flasche herbeizuzaubern. Welche Vielfalt! Ebenso köstlich Peter Warkentin als genervter Alt-Ehemann, der sich auch noch nach drei Jahrzehnten müht, sich auf die Launen der gerade äußerst kapriziösen Gattin einzulassen, die gerade ihre Depression pflegt, ein ganz anderes, neues, frühlingsfrisches Leben haben will.
Wie er den um die in Australien mit einem Surfer – ausgerechnet! – liierte Tochter hoch besorgten Vater gibt, den trotz englischer Schwiegertochter glücklichen frisch gebackenen Großvater, den zwar zum Ehekrach aufgelegten, doch sich auf die Capricen der Gattin einlassenden Ehesouverän, der sogar fürs weitere Sexleben Ideen entwickelt, auf die Bühne bringt, ist einfach hohe Schauspielkunst.
Und nicht nur das: die beiden Schauspielprofis haben einen derartigen Spaß an ihren sich gegenseitig befeuernden Rollen, dass der Funke aufs Publikum schier überspringen muss. Die Fetzen fliegen: Boshaftigkeiten, Kissen, Papierkorb, Bücher – und zur Zerstörungsorgie gesellt sich eine des Bekennens und Junkfood-Futterns. Die Schauspielleistung: Enorm, auch als sich die zwei Vollprofis aus kurzen Textverhedderungen in gekonnte Improvisation retten mussten.
Für den höchst vergnüglichen Theaterabend mit Tiefgang sollten sich Interessierte frühzeitig telefonisch (07932/60286) oder via E-Mail (info@rdtheater.de) ihre Karten sichern.
„Anderthalb Stunden zu spät“ steht am Freitag und Samstag, 19. und 20. April, am Samstag und Sonntag, 4. und 5. Mai sowie am Freitag und Samstag, 7. und 8. Juni auf dem Spielplan im Amtshaus Oberstetten.
Die Vorstellungen beginnen bei den Sonntagsvorstellungen um 18 Uhr, freitags und samstags heißt es jeweils um 19.30 Vorhang auf.
Und Vorsicht: Nicht zu spät kommen! Es sind nur die Geschäftspartner von Pierre und Laurence, die anderthalb Stunden auf ihre Gäste warten. Warkentins starten pünktlich.
URL dieses Artikels:
https://www.fnweb.de/orte/niederstetten_artikel,-niederstetten-hinreissende-komoedienpremiere-_arid,2196571.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.fnweb.de/orte/niederstetten.html