Creglingen. Dr. Christoph Bittel, Vorsitzender der Stiftung Jüdisches Museum Creglingen, führte in die erste Wanderausstellung dieses Jahres im Jüdischen Museum Creglingen ein. Unter dem Titel "Juden in Deutschland heute. Fotografien von Edward Serotta" können die Besucher bis einschließlich 26. Juli jeweils sonntags von 14 bis 17 Uhr insgesamt 64 Bilder des amerikanischen Fotografen und Journalisten auf sich wirken lassen.
Die Bilder geben seine vielfältigen Eindrücke vom jüdischen Leben in Deutschland in den 90-er Jahren beeindruckend wieder.
Zur Einführung in die Thematik richtete Rabbiner Yehuda Pushkin aus Esslingen den Fokus vor allem auf die jüdischen Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion, die nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs die Mitgliederzahl der jüdischen Gemeinden auf das Vierfache ansteigen ließen.
Musikalisch sehr eindrucksvoll umrahmt wurde die Veranstaltung von Karin Amrhein, Fachbereichsleiterin an der Städtischen Musikschule Wertheim, die mit ihrer Bassklarinette die drei Stücke "Freylach aus Warschau", Apokalypse/Shalom" und "Bey mir bist du scheen" vortrug.
Die Fotoschau entstand in Kooperation von Edward Serotta mit dem Jüdischen Museum in Frankfurt. Sie wurde erstmals 1997 im "Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland" in Bonn präsentiert. Sie ist in vier Themenbereiche gegliedert, die natürlich in der Eröffnungsfeier nicht alle vertieft werden konnten.
Jahr 1989 war Zäsur
Für das jüdische Leben im Nachkriegsdeutschland bedeutete das Jahr 1989 eine Zäsur. Nicht durch die Wiedervereinigung - die jüdischen Gemeinden in der DDR und Ostberlin hatten insgesamt nur 400 Mitglieder - sondern durch die Zuwanderung von Juden, die als sogenannte Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kamen. Insgesamt 220 000 Menschen emigrierten von dort in den 20 Jahren nach der politischen Wende, etwa die Hälfte dieser Zuwanderer waren Juden im Sinne der religiösen Definition. Die jüdischen Gemeinden waren für diese Zuwanderer ein "Anker" , eine erste feste Anlaufstelle in der neuen, noch fremden Heimat. "Am Anfang und in der Mitte der 90-er Jahre, als die Synagogen, zumindest an den großen Feiertagen, noch überfüllt waren, konnte man sich das mit dem 'Rausch' der Emigration erklären. Die Leute haben sich verloren gefühlt, sie waren nicht integriert in die neue Gesellschaft, suchten sozialen Kontakt und kamen so natürlicherweise in die Synagoge", sagte Pushkin. "Es ist verständlich, dass nicht die Religion sie in die Synagoge führte. Ich glaube nicht, dass die Personen langfristig vorhatten, in der Synagoge zu bleiben." Fast 100 000 neue Mitglieder zu integrieren war eine riesige Herausforderung für die jüdischen Gemeinden in Deutschland. "Woran glauben und woran glauben die russischen Juden nicht", konkretisiert Pushkin sein Thema. Während seines Vortrages verwies er wiederholt darauf, dass er kein Soziologe sei, seine Beobachtungen rein subjektiven Charakter haben und keineswegs ein sozial-analytisches Untersuchungsergebnis darstellten. Die russischen Juden in Deutschland teilt er in drei Hauptgruppen ein: Zunächst in Personen, die weit von der Religion entfernt sind, in der Regel schon mehrere Jahre. Ferner in solche Menschen, die durch ihr Elternhaus mit der jüdischen Religion vertraut sind und außerdem in diejenigen, die nach dem Fall des Kommunismus das Judentum in der einen oder anderen Art für sich entdeckt haben.
Unterschiedliche Beobachtungen
Die aktive Teilnahme am religiösen Leben der Emigranten aus Russland lässt sich nach ihrem Alter klassifizieren. "Die aktivste Teilnahme geht mit dem Rentenalter einher", betont der Rabbiner. Außerdem schickten viele Eltern ihre Kinder gerne in jüdische Kindergärten, Schulen oder Nachmittagsgruppen.
Bei jungen Leuten schildert er sehr unterschiedliche Beobachtungen. "Die Erwachsenen zwischen 30 und 50 sind leider gar nicht vertreten. Traurig ist, dass genau diese Altersgruppe das Rückgrat des religiösen Lebens einer funktionierenden Gemeinde darstellen sollte," bedauert Pushkin und befürchtet, dass "ohne die Einbeziehung dieser Altersklasse... und ohne familiäre Freizeitgestaltung in den Gemeinden das deutsche Judentum in die Zustände der Voremigration zurückfallen wird - sowohl im Sinne der Quantität als auch hinsichtlich seiner Rolle im Weltjudentum."
Trotz dieser Befürchtungen ist der orthodoxe Rabbiner überzeugt, dass es eine Zukunft für das Judentum in Deutschland gibt. Das russischsprachige Judentum, glaubt Pushkin, werde als eigenständiger Zweig des Judentums untergehen, doch als Teil des Gesamtjudentums in Deutschland fortbestehen.
"Schon jetzt kann man Jugendarbeit kaum ohne fundierte Deutschkenntnisse betreiben. Aber die jüdische Gemeinschaft in Deutschland könnte versuchen, die neuen Gene, aber auch die Mentalität und Kultur des russischen Judentums anzunehmen und sie zu einem Teil ihrer zu machen", blickte Pushkin in seinem Schlusswort nach vorne.
Dr. Bittel schloss in seinen Dank an den Redner auch die Firmen mit ein, durch Spenden dazu beigetragen haben, dass die Ausstellung in Creglingen gezeigt werden kann.
Jehuda Pushkin: Werdegang
- Jehuda Pushkin, seit 2011 als Rabbiner für die Zweigstellen der Israelitischen Religionsgemeinschaft zuständig, ist selbst in Russland aufgewachsen.
- Er hat dort unter anderem - wie später auch in Israel an jüdischen Hochschulen - den Jeschiwot, so genannten Talmudakademien - studiert.
- Nach Abschluss seiner Ausbildung war er für die "Lauder Foundation", eine Stiftung, die jüdische Bildungsstätten in 16 Ländern mit dem Ziel der Stärkung der jüdischen Identität finanziert, in Hamburg und Frankfurt tätig.
- Danach war er etwa fünf Jahre als Wanderrabbiner in Nord- und Ostdeutschland eingesetzt und sorgte so unter anderem für die religiöse Führung und Unterweisung in jüdischen Gemeinden, die selbst keinen Rabbiner hatten.
- Mit diesem persönlichen Hintergrund und Werdegang ist Jehuda Pushkin natürlich ausgewiesener Experte, wenn er über die russischen Juden in Deutschland referiert. hw
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