Röttingen. Für die Frankenfestspiele Röttingen hat Regisseur Dietmar Horcicka, der vor zwei Jahren auf Burg Brattenstein bereits die Geschichte der Florence Foster Jenkins in Szene setzte, die Bühnenadaption von René Heinersdorff maßgeschneidert.
Mit nur fünf Darstellern – im Film sind es 14 – in insgesamt acht Rollen gelingt ihm die glaubhafte Inszenierung von Schloss und Straßenwelt. Höchst authentisch, immens präsent und nuancenreich agieren die extrem ungleichen und dennoch „ziemlich besten“ Freunde Philippe (Ingo Brosch) und Driss (Deryl Kenfack). Magalie (Rebecca Lara Müller) und Yvonne (Julika Wagner, die auch in die Rolle der Colette schlüpft) kümmern sich um den Gelähmten. Als verdruckste Pflegekraft auf Stellensuche, arroganter Anwalt Antoine und Ersatzpfleger Julien beweist Fabian Rogall vielfältiges Talent.
Furios gleich der Auftakt: Das Auto kommt zu knalligem Rocksound dank Hebebühne aus der Tiefe, Kenfack liefert ein schier umwerfendes Solo als die Verkehrspolizei narrender Fahrer Philippes. Perfekt erfüllt der in Deutschland aufgewachsene gebürtige Kameruner dann sämtliche Klischees, mit denen auch der Film spielt.
Das eher abstrakte, an nordische Regalelemente erinnernde Bühnenbild und die perfekte Nutzung der Drehbühne schaffen auf der Freilichtbühne enorme Interieurs. Horcickas ureigene Regiehandschrift zeigt sich bei der Führung des eher widerwillig in den Pflegerjob Einsteigenden durch die Zimmerfluchten des durch Stucksims und barock anmutende Tapeten nur angedeuteten Schlosses. Die Drehbühne wird integrales Darstellungselement, wenn Yvonne und Magalie Driss vom Roten Salon über Spiegelsaal und Bürotrakt vorbei an Philippes Zimmerflucht bis zum seinem weit entfernten Zimmer geleiten. Gekonnt setzten die beiden Darstellerinnen und Kenfack die pfiffige Rotationsidee um.
Perfekt und köstlich
Rollstuhl, Krankenhausbett und Abstellwagen samt Pflegeutensilien vom Gummihandschuh bis zum Kompressionsstrumpf skizzieren das Umfeld des Pflegebedürftigen, unaufgeräumte Schlafecke, lautstarker Sound, dazu Kopfhörer und später eine Staffelei umreißen Driss’s neues Privatumfeld.
Perfekt und durch ein köstliches Gimmick angereichert, das das Publikum mit begeistertem Szenenapplaus quittierte, gestalten Regie, Licht- und Tontechnik den Paragliding-Ausflug von Driss und Philippe.
Schier unglaublich ist den ganzen Abend über die Leistung von Ingo Brosch, der bis zum Schlussapplaus den vom Hals ab gelähmten Unternehmer mimt. Ausschließlich durch Blickkontakt, Mimik und Stimme schafft er eine ungeheure Präsenz, bewegt auch nicht einen Zeh, und selbst die Bewegung der beiden Finger, mit denen auch das Vorbild Philippe Pozzo di Borgo seinen Rollstuhl lenkte, ist kaum zu erkennen. Trotz der fast komplett aufs Statische reduzierten Rolle beherrscht Brosch das Publikum, das binnen weniger Minuten den Rollstuhlfahrer als absolut komplette, herrlich souveräne und selbstironische Persönlichkeit wahrnimmt. Ohne jeden Zweifel kann er so dem naiv unverschämt auftretenden Ex-Häftling, der als „Arme und Beine“ eingestellt ist, Paroli bieten, und das keineswegs aufgrund seiner Macht verleihenden Finanzkraft.
Bandbreite ausgespielt
Hoch authentisch liefert Kenfack eine nuancenreiche Driss-Darstellung vom Klischeebild des Kleinganoven bis zum hochsensiblen und fürsorglichen Begleiter des Gelähmten, vom Macho-Macker bis zum sorgenden großen Bruder.
Julika Wagner überzeugt als professionelle Sekretärin ebenso wie als die Professionelle Colette, die beim Engagement für den Gelähmten mit gänzlich anderen Diensten rechnet als den geforderten. Ihr Komiktalent ist ebenso ausgeprägt wie die komplette emotionale darstellerische Bandbreite swe Berlinerin.
Ihre aus Zürich stammende Kollegin Rebecca Lara Müller gibt mit viel Fingerspitzengefühl die Privatsekretärin Magalie. Gemeinsam entwickeln sie nach anfänglich hochmütigen Zweifeln an Driss eine freundschaftliche Verbindung um Philippes willen, amüsieren sich schon mal auf Kosten des farbigen Mitarbeiter, unterstüzten ihn aber auch bei seinen Auseinandersetzungen mit der unsichtbar bleibenden unerzogenen und Tochter Philippes, die überheblich zu rassistischen Seitenhieben neigt.
Mit den drei Rollen, die Fabian Rogall als Bewerber, Anwalt und Ersatzpfleger übernimmt, genügen dem Regisseur fünf Darsteller, um auch die sechs auf der Bühne nicht vertretenen Filmakteure ins Spiel einzubeziehen und dem Film von Toledano und Nakache gerecht zu werden.
Es ist ein beeindruckender, sowohl anrührender als auch amüsanter Theaterabend, den Regisseur Dietmar Horcicka gemeinsam mit den Akteuren auf und hinter der Bühne dem Publikum serviert. Der begeisterte Schlussapplaus galt den Schauspielern ebenso wie der Regie, den Bühnen- und Kostümbildnerteams sowie der Licht- und Tongestaltung, die gekonnt Akzente setzten.
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