Veitshöcheim. Das Eindringen russischer Drohnen und Kampfjets in die Nato-Ostflanke, der Beschuss von Regierungsgebäuden in Kiew: Der Kommandeur der 10. Panzerdivision in Veitshöchheim, Generalmajor Jörg See, nimmt die Bedrohung durch Russland sehr ernst. Ihm untersteht auch die Panzerbrigade 45 „Litauen“. Im FN-Interview spricht er über die Notwendigkeit, dass die Truppe wächst, die reale Gefahr und die öffentliche Wahrnehmung der Bundeswehr.
Als 2011 die Wehrpflicht ausgesetzt wurde, waren Sie stellvertretender Adjutant im Verteidigungsministerium unter Karl-Theodor zu Guttenberg. Jetzt soll die Truppe aufwachsen. Dabei setzt man auf Freiwilligkeit, der Wehrdienst soll nicht wieder eingesetzt werden. Ist das aus Ihrer Sicht realistisch?
Jörg See: Lassen Sie mich das so einordnen: Im Grunde erleben wir jetzt eine völlig veränderte sicherheitspolitische Rahmensituation. Wir haben 2008 Georgien erlebt, 2014 die Krim und schließlich im Februar 2022 den Angriff Russlands auf die Ukraine – für mich eine absolute Zäsur. Deutschland hat sich daraufhin verpflichtet, größere Verantwortung zu übernehmen, in der Nato, innerhalb Europas. Für mich als Kommandeur der 10. Panzerdivision, die den Auftrag hat gemeinsam mit unseren Partnern die Nato-Ostflanke zu sichern, zur Abschreckung und Verteidigung in Litauen entscheidend beizutragen, bedeutet das natürlich auch, dass wir unsere militärischen Fähigkeiten konsequent ausbauen, unsere Einsatzbereitschaft ständig verbessern: Das bedeutet mehr Personal, Material sowie intensive Ausbildung und Übung.
Reicht die Freiwilligkeit aus?
See: Wir brauchen mehr Personal. Und das wird über einen neuen Wehrdienst möglich gemacht. Ich bin da sehr zuversichtlich und vor allem auch dankbar, dass wir jetzt eine Chance haben, uns wieder auf eine breitere personelle Basis zu stellen. Die Kompanien bekommen neue Rekrutinnen und Rekruten, die wir entweder für den eigenen Bedarf oder aber -viel wichtiger- für den Aufbau einer Reserve gewinnen können. Auch daran müssen wir denken, denn Streitkräfte müssen aufwuchsfähig sein. Wenn das neue Wehrdienstgesetz so kommt, dann hat das für uns natürlich Auswirkungen auf Ausbildung, Infrastruktur, etc. Aber ich bin da guter Dinge. Gestatten Sie mir noch einen persönlichen Punkt: Ich glaube, wir tun sehr gut daran, die Schwelle für die Wiedereinführung einer Wehrpflicht hochzulegen. Wir reden schließlich über das Leben unserer Söhne, respektive unserer Töchter – unsere nächste Generation. Hier kann ich mir eine Erweiterung sehr gut vorstellen, weil es auch ein Stück weit zur Gleichheit und Gleichberechtigung dazu gehört. Wichtig ist, dass man die Weichen für einen möglichen weiteren Schritt jetzt stellt. Das wird getan und so bleiben wir reaktionsfähig.
Benötigt wird auch die Infrastruktur. Viele Kasernen gibt es nicht mehr. Woran mangelt es konkret in Ihrer Division?
See: Jeder Standort der Division ist da unterschiedlich; die Regionen sind unterschiedlich. In der Nähe von Ballungszentren haben wir viele Freiwillige und einen hohen Bedarf an Infrastruktur. In eher ländlichen, teils grenznahen Regionen ist das weniger stark ausgeprägt. In vielen Regionen haben wir Standorte und Übungsmöglichkeiten aufgegeben, zum damaligen Zeitpunkt aus gutem Grund. Ich schaue aber auf die Standorte der Division heute. Und wir tun alles dafür, dass die Infrastruktur, die Unterkunftsgebäude und Ausbildungseinrichtungen wieder auf einen guten Stand kommen. Ein wichtiger Faktor für die Personalgewinnung.
Wie lange würde es dauern, bis die Strukturen wie früher, wenn man sie überhaupt wieder so haben möchte, aufgebaut sind?
See: Lassen Sie mich auch das einordnen. Die Strukturen, die wir Ende der 1980er bis Anfang der 1990er-Jahre gesehen haben, wurden über Jahrzehnte aufgebaut und an die damaligen Rahmenbedingungen der Wehrpflicht angepasst. Mit der Aussetzung in 2011 fiel ganz faktisch der Bedarf an Kreiswehrersatzämtern und der Musterungsorganisation weg und wurde folglich abgebaut. Das muss jetzt erst wiederaufgebaut werden. Wir sehen aber auch, besonders in Krisenzeiten oder in Kriegszeiten: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Ich glaube, dass die notwendigen Strukturen in angemessener Geschwindigkeit aufgebaut werden. Es wird intensiv und auf allen Ebenen daran gearbeitet, aber es braucht dennoch Zeit.
Die Rekruten sind das eine, die militärische Ausbildung ist das andere. Sie brauchen auch Panzer in der 10. Panzerdivision. Ist genügend Material vorhanden?
See: Personal, Ausrüstung und Ausbildung sowie Übung gehören untrennbar zusammen. Wir sprechen als Soldaten von Fähigkeiten. Und ja, wir kriegen viel Material und Großgerät, das stimmt. Ich brauche aber auch die Menschen, die es bedienen, die daran ausgebildet werden und damit üben. Erst dann habe ich eine Fähigkeit. Als Truppenführer, der Verantwortung trägt für den Auftrag der Abschreckung und Verteidigung an der Nato-Ostflanke, hätte ich natürlich gerne noch mehr, und das noch früher und noch schneller. Insgesamt ist die 10. Panzerdivision materiell schon gut aufgestellt und wir sind sehr dankbar, dass die Entscheidungen so getroffen wurden, uns auch weiteres Material und Großgerät zur Verfügung zu stellen. Damit erhöhen wir konsequent unsere Einsatzbereitschaft.
Das muss aber auch erst produziert werden.
See: Eine enge Zusammenarbeit mit der Industrie ist unabdingbar. Die erforderlichen Produktionskapazitäten müssen rasch aufgebaut werden, um den steigenden Bedarf der Streitkräfte zu decken. Daran wird intensiv gearbeitet. Für die Division kann ich sagen, dass sie schon jetzt ein robuster, einsatzbereiter und schnell verlegbarer Großverband mit professionellen Soldatinnen und Soldaten ist. Ich schaue voller Stolz und Freude auf meine Frauen und Männer, die ihren Dienst mit einer großen Ernsthaftigkeit verrichten.
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine dauert jetzt schon drei Jahre. Es ist kein Frieden in Sicht. Macht Europa genug für den Frieden oder muss Europa aus Ihrer Sicht auch mit Blick auf die Brigade Litauen noch mehr tun?
See: Zunächst mal ist es sehr bitter, dass das ukrainische Volk seit drei Jahren immer noch jeden Tag Krieg erleben muss. Die Meldungen zu Drohnen- und Raketenangriffen reißen nicht ab; der Frontverlauf ist weitgehend statisch, die Verluste sind enorm. Insofern glaube ich, dass ein Ende momentan nicht abzusehen ist. Umso wichtiger ist daher die fortwährende Unterstützung der Ukraine, der Aufbau einer glaubwürdigen Abschreckung und die Vorbereitung der Verteidigung an der Ostflanke, in Litauen. Das ist die Aufgabe der 10. Panzerdivision. Und wir haben schon viel erreicht. Wir sind im täglichen Arbeiten multinational: mit meinem niederländischen stellvertretenden Kommandeur, mit niederländischen Offizieren, Amerikanern und Litauern im Divisionsstab. Die Multinationalität ist eine Stärke, ob in der Division oder im Bündnis. Die Panzerbrigade 45 „Litauen“ wird als Teil der 10. Panzerdivision neu aufgestellt. Wir nehmen also keine andere Brigade und bringen sie nach Litauen, sondern wir bauen eine neue Brigade auf und stationieren sie vor Ort. Wir stehen zu unserer Verpflichtung und wollen unseren litauischen Freunden helfen. Der Plan ist sehr ambitioniert, ansonsten wäre man auch unglaubwürdig. Aber alle Schritte werden entlang einer Roadmap, die mit Litauen auf höchster politischer Ebene besprochen worden ist, umgesetzt. Bisher ist jeder Schritt eingehalten worden. Und darauf kommt es an – füreinander einzustehen und gemeinsam stark zu sein.
Wie haben Sie den Beginn der Brigade Litauen erlebt?
See: Im Mai fand der große Indienststellungsappell der Panzerbrigade 45 „Litauen“ mitten in Vilnius auf dem Platz vor der Kathedrale statt. Hinter den angetretenen Soldatinnen und Soldaten standen litauische Familien, Kinder, die sich freuten. Das war schon ein wirklicher Gänsehaut-Moment. Die Dankbarkeit der Menschen war und ist jeden Tag spürbar. Ich bin mittlerweile etwa zweimal im Monat vor Ort und begleite den Aufwuchs der Brigade sehr eng.
Sie waren in verschiedenen Verwendungen bei der Nato in Brüssel. Wäre es aus Sicht der Nato sinnvoller, noch mehr zu tun?
See: Die Beantwortung dieser Frage obliegt nicht mir als Divisionskommandeur. Mit Blick auf meine Vorverwendungen kann ich aber sagen, dass die Veränderung der sicherheitspolitischen Lage auch bei der Nato früh wahr und sehr ernst genommen wurde und weiter wird. Letztlich erleben wir den Übergang von den Jahrzehnten des internationalen Krisenmanagements hin zu einer sehr ernsten und realen Bedrohung für die Stabilität unserer europäischen Sicherheitsarchitektur. Es gilt nun einen Aggressor abzuschrecken, denn Russland führt in der Ukraine einen brutalen Angriffskrieg. Nun gilt es Europa, unser Land zu schützen. Dazu ist eine glaubwürdige Abschreckung erforderlich, und das erfordert Stärke. Dafür steht die 10. Panzerdivision mit ihrem Auftrag.
Sie nehmen die russische Bedrohung für die baltischen Staaten sehr, sehr ernst.
See: Absolut. Die Lage ist ernst. Wir erleben seit Jahren eine russische Rhetorik, die ausgesprochen aggressiv ist. In den sozialen Medien zum Beispiel erleben wir immer wieder Fake News und Kommentare von mutmaßlichen Bots. Wir erleben Drohnen über polnischem oder litauischem Gebiet. Wir mussten Anschläge auf Kabel in der Ostsee erleben. Das und vieles mehr nennt der Generalinspekteur hybride Kriegsführung. Aus meiner Sicht eine ernstzunehmende Bedrohung, die wir alle spüren. Und zeitgleich erleben wir, was in der Ukraine passiert. Wir haben viele gute Gründe, das alles sehr ernst zu nehmen. Keine Panik machen, aber entschlossen handeln. Für mich als Truppenführer gibt es immer nur eine Konsequenz: Keine Zeit verlieren, zupacken und seine Arbeit machen. „No time to waste“. Diese Verpflichtung sind wir mit unseren multinationalen Partnern eingegangen.
Putin hatte im Mai formuliert: Überall wo ein russischer Soldat seinen Fuß hinsetzt, ist russischer Boden. Bereiten Ihnen solche Aussagen schlaflose Nächte?
See: Nein, die Aussage an und für sich nicht. Weil wir mittlerweile wissen, wie er agiert, wie er spricht. Wenn, dann treibt mich eher die Verantwortung um, im Sinne von „habe ich persönlich, haben wir als Division für unsere Frauen und Männer immer genug getan. Können wir nicht noch mehr tun? Tun wir das Richtige?“ Bisher würde ich sagen, wir sind auf einem wirklich guten Weg. Doch man würde seiner Verantwortung als militärischer Führer nicht gerecht werden, wenn man sein Handeln, seine Entscheidungen nicht immer konsequent reflektiert, um noch besser zu werden.
Können Sie sich vorstellen, dass deutsche Truppen in der Ukraine eingesetzt werden?
See: Das ist eine politische Entscheidung. Und am Ende des Tages tun wir das, wofür wir ein politisches Mandat bekommen. Das ist unser Auftrag.
Sie haben den hybriden Krieg angesprochen. Gab es schon Ausspähversuche russischer Drohnen?
See: Wir beobachten seit Jahren immer wieder Einzelfälle, gerade wenn es um Drohnen geht. Da sind wir sehr wachsam. Wachsamkeit war aber schon immer ein Thema: Als ich 1986 meine Grundausbildung begonnen habe, wurden wir in einem Unterricht sensibilisiert, Ausschau zu halten nach bestimmten Kennzeichen von Fahrzeugen der sowjetischen Militärmission und diese zu melden. Wachsamkeit, militärische Sicherheit und Einstufung von Informationen sind wichtig. Es kommt darauf an, nicht wegzuschauen, sondern hinzusehen.
Bundesverteidigungsminister Pistorius hat von Kriegstüchtigkeit gesprochen hat. Sollten wir vielleicht eher von Verteidigungsfähigkeit sprechen?
See: Aus meiner Sicht als Truppenführer, als Kommandeur dieser Division kann ich sagen, dass ich meine Frauen und Männer für ein mögliches Gefecht, für einen Krieg ausbilde und sie darauf vorbereite. Das Ziel ist dabei ganz klar: Ich will mit dieser Truppe nicht Zweiter werden. Wir müssen nicht nur erfolgreich kämpfen, sondern siegen können, gewinnen wollen. Ob Sie das dann kriegstüchtig oder verteidigungsfähig nennen, ist letztlich unerheblich. Ich glaube, der Begriff hat das Bewusstsein vieler Menschen geschärft. Es bedarf nämlich zwei Dinge: Nicht nur schlagkräftige Streitkräfte, sondern auch eine resiliente Gesellschaft, einen auch unter Bedrohung funktionierenden „Regierungsapparat“. Wenn man beides zusammennimmt: Militärisch gewinnen können und wollen und gesellschaftlich vorbereitet und robust sein, dann ist das ein sehr guter Weg – unabhängig von Begrifflichkeiten.
Die 10. Panzerdivision sollte eigentlich 2027 ihre volle Einsatzbereitschaft erreichen. Aufgrund des Ukraine-Kriegs wurde das auf 2025 vorgezogen.
See: Die 10. Panzerdivision wurde als deutscher Beitrag für das sogenannte Nato Force Model gemeldet. Das heißt, dass wir der Nato als einsatzbereiter Großverband bereitgestellt werden. Das ist unsere Marschrichtung. Der fortwährende Krieg in der Ukraine beschleunigt die Entwicklungen und unterstreicht täglich die Dringlichkeit: „No time to waste“.
Der Blick der Deutschen auf die Bundeswehr hat sich aufgrund der aktuellen geopolitischen Lage geändert. Wie nehmen Sie diese Veränderungen wahr?
See: In den Zeiten der Wehrpflicht war die Bundeswehr in der Gesellschaft präsent. Es gab viele Familien, die auf die eine oder andere Weise Bezug zur Truppe hatten. Nach 2011 hat sich die Sichtbarkeit der Bundeswehr in der Gesellschaft reduziert. Aber in den letzten Jahren hat sich das Verhältnis in der Wahrnehmung der Bundeswehr schon wieder verändert. Zum Beispiel, wenn Soldatinnen und Soldaten in Uniform mit der Bahn fahren. Wenn ich im ICE nach Köln sitze, sehe ich viele Frauen und Männer in Uniform, übrigens auch von der Bundespolizei. Die Leute trauen sich zu fragen, was machen sie denn eigentlich, was ist ihre Aufgabe. Sie bedanken sich für den Dienst, den wir leisten. Ich denke schon, dass die Offenheit, die Neugier gestiegen ist, aber eben auch die Wertschätzung. Das erlebe ich zum Beispiel auch, wenn ich öffentlich in unterschiedlichen Bereichen vortrage und erkläre. Ich erfahre ein sehr großes Interesse an unserer Aufgabe. Ich habe schon den Eindruck, dass die Menschen wollen, dass sich die Bundeswehr in der Öffentlichkeit zeigt.
Wie ist die 10. Panzerdivision hier in Veitshöchheim in die Gesellschaft integriert?
See: Ich bin sehr froh, dass ich hier sein darf. Es ist eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der Gemeinde Veitshöchheim und dem 1. Bürgermeister Jürgen Götz, der hier in diese Kaserne selbst 1990 als Wehrpflichtiger eingerückt ist. Die enge Partnerschaft zwischen der Garnisonsgemeinde und der Bundeswehr wächst nun schon seit 60 Jahren – ein Jubiläum, das wir im November gemeinsam feiern: 60 Jahre Bundeswehrstandort Veitshöchheim, eingebettet in 70 Jahre Bundeswehr und 35 Jahre Deutsche Einheit. Insofern ist die Bundeswehrgeschichte schon lange eng mit Veitshöchheim verbunden. Die Region und ihre Menschen bringen unseren Soldatinnen und Soldaten sehr viel Herzlichkeit und Wertschätzung entgegen. Darüber freue ich mich sehr.
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