Odenwald-Tauber. Nachfrage nach Psychotherapie nimmt auch nach der Pandemie nicht ab. Zu diesem Schluss kommen die Landesärztekammer, die Landespsychotherapeutenkammer und die Kassenärztliche Vereinigung gemeinsam bei einer Anfrage der Fränkischen Nachrichten.
So hätten Kinder und Jugendliche vermutlich am stärksten unter den Restriktionen in der Pandemie gelitten. Aber sie seien es auch, die zur Bewältigung ihrer Entwicklungsaufgaben auf die Welt draußen angewiesen seien.
Manchmal ist es schwer, genau zu bestimmen, wie gravierend Probleme des eigenen Kindes eigentlich sind. Ist es eine „Krise“, die sich bald wieder legen wird? Sind die anhaltenden Verhaltensauffälligkeiten meines Kindes der Anfang einer schwerwiegenden „Fehlentwicklung“?
Land reagiert auf den gestiegenen Bedarf im psychiatrischen Bereich
Aktuell reagierte das Land auf den gestiegenen Bedarf im psychiatrischen Bereich mit deutlich mehr Betten und Plätzen für Kinder und Jugendliche, heißt es in einer Pressemitteilung aus dem Gesundheitsministerium. Nachdem es während und nach der Corona-Pandemie zu einem deutlichen Anstieg an psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen gekommen ist, hat die Landesregierung diese Woche den Ausbau der stationären Kapazitäten beschlossen.
Auf diese Weise können künftig in diesem Fachbereich bereits mit einer Bettenauslastung von 70 Prozent anstatt wie bisher 90 Prozent weitere Betten ausgewiesen werden. Hintergrund der neuen Berechnungsgrundlage ist, dass bei verschiedenen psychischen Störungen, insbesondere sozialen Phobien, oft eine Einzelzimmerbelegung erforderlich ist.
„Die Pandemie erschwerte vor allem Schulkindern und Jugendlichen die alltägliche Expansion, so dass viele vitale Energien, die ,eigentlich’ in das Alltagsleben einfließen sollten, im familiären System oder gelegentlich im eigenen Körper verhaftet blieben und dadurch – insbesondere bei vulnerablen Systemen – zu einer großen Herausforderung wurden“, erklärt Professor Dr. Eva Rass, Honorarprofessorin der Hochschule Mannheim und Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin mit eigener Praxis in Buchen.
Hilfe in der Not
Anlaufstellen bei psychischen Problemen von Kindern und Jugendlichen:
Klinik und Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJPP) in Mosbach, Neckarburkener Straße 6, Telefon 06261/881321 oder unter www.diakonie-klinik-mosbach.de
Kostenlose Telefonberatung für Kinder und Jugendliche unter 0800/1110333.
Psychologische Beratungsstelle des Diakonischen Werkes im Neckar-Odenwald-Kreis, Telefon 06281/562430, oder unter www.diakonie-nok.de
Caritasverband Neckar-Odenwald-Kreis, Telefon 06281/32550, oder unter www.caritas-nok.de
Zurzeit gibt es im Neckar-Odenwald-Kreis unter www.gesundheit-nok.de/aktuelles/132-mentale-gesundheit-von-kindern und jugendlichen.html eine Wissensreihe zur mentalen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen mit zahlreichen Veranstaltungen. dani
Mangel an Therapieplätzen durch Corona deutlicher geworden
Der Mangel an Therapieplätzen sei durch Corona vielleicht noch deutlicher geworden, habe jedoch schon vorher bestanden und sei auch heute vorhanden. „Ein halbes Jahr Wartezeit ist bei bestehender Not schwer zu verantworten, gilt aber auch bei anderen Facharztgruppen“, macht sie deutlich.
„Unbehandelte Krankheiten lösen sich zuweilen durch die vehemente Lebensenergie und die Ressourcen einer Familie in einer vertretbaren Form, doch führen natürlich gravierende Fehlentwicklungen ohne fachkundige Intervention möglicherweise in unglückliche Erwachsenenverläufe“, gibt die Therapeutin zu bedenken.
Sie selbst arbeite schon seit vielen Jahren mit dem durch Handlungswissen und wissenschaftlichen Erkenntnissen begründeten therapeutischen Interventionsansatz, der sich in den vergangenen 20 Jahren für viele Beteiligten als gewinnbringend erwiesen habe. „In der Folge gibt es bei mir außer nach dem Erstanruf mit eventuell drei Wochen Wartezeit keine weiteren Hindernisse, um therapeutische Hilfestellung anzubieten“, sagt sie. Allerdings höre sie von ihren Patienten, dass sie von ihrer vorherigen vergeblichen Therapieplatzsuche berichten. Das Spektrum der Krankheiten bei den Kindern und Jugendlichen im Neckar-Odenwald-Kreis und im Main-Tauber-Kreis sei weit und differenziert, konstatiert Eva Rass.
NOK und MTK in zwei kassenärztliche Vereinigungen gegliedert
Wie Dr. Dietrich Munz von der Landespsychotherapeutenkammer Baden-Württemberg einräumt, sind die meisten Untersuchungen in diesem Bereich nicht nach Landkreisen aufgeteilt. Erschwerend komme hinzu, dass der Neckar-Odenwald-Kreis und der Main-Tauber-Kreis in zwei Kassenärztliche Vereinigungen gegliedert sind.
„Die Möglichkeit, sich als Facharzt niederlassen zu können, richtet sich an der Bedarfsplanung aus“, erklärt er. In dieser Bedarfsplanung werde bestimmt, wie viele Ärzte sich für eine bestimmte Bevölkerungszahl und einen Kassensitz niederlassen können. Die Bedarfsplanung werde vom Bundesausschuss festgelegt. „Dabei wird immer davon ausgegangen, dass man im ländlichen Raum weniger Ärzte und Therapeuten braucht als in der Stadt“, moniert Munz. Grundsätzlich sei der Durchschnittswert im ländlichen Raum schon immer schlechter, das ziehe sich bis heute durch.
Versorgung formal ausreichend
Formal sei die Versorgung im Neckar-Odenwald- und Main-Tauber-Kreis zwar ausreichend, aber an der Grenze. So gehe die Bedarfsplanung in beiden Kreisen davon aus, dass ein Psychotherapeut auf 5700 Menschen komme, während in Stuttgart ein Therapeut auf nur 3250 Menschen gerechnet wird. Der Main-Tauber-Kreis mit seinen etwa 135 000 Einwohnern komme nach dieser Berechnung auf 23 bis 24 Therapeuten, während der Neckar-Odenwald-Kreis mit seinen etwa 145 000 Einwohnern bei 27 Therapeuten liege.
Tatsächlich sind es im Main-Tauber-Kreis nach Auskunft der Landestherapeutenkammer zurzeit 25, und im Neckar-Odenwald-Kreis 29 Therapeuten. „Natürlich kommt auch hinzu, dass Kollegen sich weniger gern in ländlichen Regionen niederlassen“, ergänzt Dr. Munz.
Bundesweit fehlen 2400 Stellen
„Faktisch haben wir eine Unterversorgung. Das muss verbessert werden, insbesondere im ländlichen Raum“, unterstreicht der Fachmann. Tatsächlich gebe es ein Gutachten von 2017, das besagt, dass bundesweit 2400 Stellen fehlten. Daraufhin seien 800 Stellen aufgestockt worden. „Trotzdem klafft nach wie vor eine große Lücke“, so Dr. Munz.
Die Gefahr, dass eine Erkrankung bei Kindern nicht behandelt werde, sei groß. Und die Wahrscheinlichkeit nehme zu. „Je früher die Behandlung beginnt, umso weniger aufwendig ist sie“, weiß er aus Erfahrung. Während der Corona-Zeit habe die Nachfrage nach psychotherapeutischer Behandlung bei Kindern und Jugendlichen um 50 bis 60 Prozent zugenommen. „Auch die Schwere der Krankheiten hat zugenommen. Viele mussten stationär behandelt werden“, sagt Munz. Das habe aber nichts mit der Krise durch Corona zu tun, sondern bei Kindern und Jugendlichen viel mehr mit den Maßnahmen, die ergriffen wurden und kommt damit zum gleichen Schluss wie Professor Dr. Eva Rass in Buchen. Denn Kinder und Jugendliche bräuchten für ihre Weiterentwicklung den täglichen Austausch mit der Umwelt, der während der Maßnahmen nicht stattgefunden habe.
„Andererseits haben Krisen eine Kehrseite. Schließlich hat der Mensch auch die Fähigkeit, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Gerade Kinder haben eine gute Fähigkeit zur Resilienz“, macht der Therapeut Mut. Trotzdem müsse der Gesetzgeber klare Vorgaben machen, wie die Situation – gerade bei Kindern und Jugendlichen – konkret verbessert werden soll.
Etwas anders klingt das im Versorgungsbericht 2023 der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg. „Wohl in keinem Land der Welt gibt es eine so gut ausgebaute und vielfältige ambulante psychotherapeutische Versorgung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung wie in Deutschland“, heißt es da gleich am Anfang.
Kassenärztliche Vereinigung beobachtet ansteigende Behandlungszahlen
Trotzdem beobachtet auch die Kassenärztliche Vereinigung ansteigende Behandlungszahlen in Baden-Württemberg. „Viele Patienten haben sich in der Vergangenheit gar nicht behandeln lassen, was das Risiko zur transgenerationalen Weitergabe von psychischen Schwierigkeiten für die folgende Generation nachgewiesenermaßen erhöht“, heißt es in dem Bericht weiter.
Die Kapazitäten habe man in den vergangenen Jahren durch die Teilung von Kassensitzen stark ausgebaut. „Während im Jahr 2013 noch 3205 Psychotherapeuten, davon 625 Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten, gab, waren es in diesem Jahr bereits 4561 – 822 bei Kindern und Jugendlichen.“ Wie groß der patientenseitige Bedarf ist, zeige sich auch daran, dass psychotherapeutische Behandlungen bei der Terminservicestelle der KVBV am häufigsten nachgefragt würden. „Psychotherapeutische Praxen haben einen langsamen Turnover im Patientenstamm, so dass neue Patienten nur langsam aufgenommen werden können“, heißt es in dem Bericht der KVBW.
Kai Sonntag, Pressesprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Baden Württemberg, betont ebenso, dass die Zahl der niedergelassenen Ärzte und Therapeuten begrenzt ist. „Sowohl bei den Kinder- und Jugendpsychotherapeuten als auch bei den Kinder- und Jugendpsychiatern sind in der letzten Berechnung im Juni diesen Jahres alle Plätze im Neckar-Odenwald-Kreis, in der Stadt Heidelberg und im Rhein-Neckar-Kreis besetzt“, betont er. Das habe allerdings auch mit der Nähe zu Heidelberg zu tun. Aber unabhängig von dieser Grenze sei die Frage, ob es überhaupt Ärzte und Therapeuten geben würde. „Wir haben in anderen Landkreisen durchaus freie Sitze, die nicht besetzt sind“, unterstreicht er.
Patienten können nicht einfach „dazwischen geschoben“ werden
Außerdem müsse man die besondere Situation in diesen Fachgruppen sehen. In aller Regel gebe es hier einen längeren und dann auch einen regelmäßigen Behandlungsbedarf, argumentiert er. „Das bedeutet, dass ein Therapeut oder Psychiater nicht einfach noch einen Patienten dazwischen schieben kann“, erklärt er. Hinzu komme, dass der Bedarf auch im Zuge der Pandemie noch einmal angestiegen ist. Und gerade in jungen Jahren sei eine frühe Behandlung oftmals wichtig. Auf der anderen Seite sei psychotherapeutische und psychiatrische Hilfe früher auch seltener in Anspruch genommen worden, weil die Stigmatisierung und die Hürde zu hoch war. Außerdem, so meint er, sei das Angebot auch nicht da gewesen.
„Wir versuchen schon einiges, um die Situation zu entschärfen“, gibt er zu bedenken. Beispielsweise könnten auch Gruppentherapien helfen. Daneben gebe es einen engeren Austausch zwischen den beteiligten Stellen. „Aber wir hören natürlich, dass es Wartezeiten gibt, die auch damit zusammenhängen, dass alle anderen Stellen überlastet sind“, räumt er ein. Denn schließlich gehörten nicht nur Therapeuten und Psychiater zur Versorgung, sondern auch die stationären Einrichtung, die Kinder- und Jugendärzte und andere mehr.
Esstörungen haben zugenommen
Aus dem Kreis der Psychiater werde immer wieder deutlich, dass im Neckar-Odenwald- und Main-Tauber-Kreis die Essstörungen zugenommen haben. Allerdings sei dies keine regionale Besonderheit.
Egal, um welches Problem es sich handelt: „Oft ist es so, dass die Eltern sich erst nach langer Zeit entscheiden, überhaupt nach einem Therapieplatz zu fragen“, gibt Kai Sonntag zu bedenken. „Sicherlich kann in Absprache mit den Kinder- und Jugendärzten versucht werden, die Situation noch zu überbrücken. Dass das aber schwierig ist, steht außer Frage“, gibt er zu.
Kai Sonntag betont, dass auch per Gesetz die Zahl der Ärzte und Therapeuten nicht einfach erhöht werden könne. „Aber die Kinder- und Jugendpsychiater sind aktuell aus der Budgetierung rausgenommen worden. Das ist zweifellos sinnvoll. Wir werden sehen, wie sich das auswirkt“, meint er und ergänzt: „Ich finde es ausgesprochen positiv, dass es überhaupt ein flächendeckendes Angebot an niedergelassenen Kinder- und Jugendlichen Psychotherapeuten und Psychiatern gibt.“
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