Buchen. „Buchen gedenkt“ in einem neuen Konzept der Opfer des Nazi-Regimes, und die Vorstellung dieses lobenswerten Konzepts in der ehemaligen Synagoge in Eberstadt im voll besetzten Saal war so authentisch wie die Vorstellung der Lebensgeschichten der Eberstädterin Susanna Stern und der Buchenerin Marie Wolf.
Diese Lebensgeschichten sind künftig auf der Internetseite des Gedenkkonzepts, aber auch auf Tafeln mit QR-Code an den ehemaligen Lebensmittelpunkten der beiden in Eberstadt und Buchen lesbar.
Idee gewürdigt
Landrat Dr. Achim Brötel würdigte die Idee des Buchener Stadtrats ebenso wie die Umsetzung durch Stadtarchivar Tobias-Jan Kohler und Grafiker Mathias Grimm. Wie Bürgermeister Roland Burger machte auch er deutlich, dass selbst im beschaulichen Buchen rund 100 Menschen – Juden, Sinti, Roma, psychisch und geistig Kranke sowie Zwangsarbeiter – auf grausame Art Opfer des NS-Regimes geworden waren. „Erschütternde Lebensbeispiele, die uns Nachgeborene heute fassungslos und beschämt machen!“
Nie, auch da waren sich Landrat und Bürgermeister einig, war das Gedenken so notwendig und wichtig wie heute. Denn mittlerweile tendiert laut Umfragen jeder Fünfte in Deutschland bei einer anstehenden Wahl zu einer vom Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextrem“ eingestuften Partei.
Zweifelsfrei stehen die Macher des neuen Gedenkkonzepts hinter einem klugen Zitat des früheren Bundespräsident Joachim Gauck: „Zwar sind wir für unsere Vergangenheit nicht verantwortlich, für den Umgang mit ihr aber allemal. Und ist es nicht dieser Umgang, der oftmals dann auch darüber entscheidet, wie wir unsere Gegenwart und Zukunft zu gestalten vermögen?“
Dr. Brötel brachte die Vorteile des neuen Konzepts auf den Punkt: Es ist ein offenes, nie abgeschlossenes und deshalb zugleich auch auf die ständige gesellschaftliche Mitwirkung angewiesenes Projekt, und damit eine fortwährende Mahnung, unsere eigene Haltung im Alltag immer und immer wieder selbstkritisch zu hinterfragen. Es wählt außerdem authentische Orte im öffentlichen Raum als leicht zugängliche Ankerplätze des Gedenkens und bietet so allen, die mehr wissen wollen, sehr einfach mittels QR-Code eine Fülle ergänzender Informationen und gibt den Gedenkworten auch Gedenkorte, an denen das Leben weitergeht.
Damit sei der Stadt Buchen auf mustergültige Weise ein mehrdimensionales Gedenken auf verschiedenen Ebenen gelungen, der die Verpflichtung folge „eben gerade nicht zuzulassen, dass das, was die Nazis erreichen wollten, am Ende womöglich noch eintritt, nämlich andere sogar über ihre physische Existenz hinaus auszulöschen oder, um es bildlich zu sagen, ihre Existenz im Buch des Lebens einfach auszuradieren, sondern im Gegenteil die Opfer von damals in unser kollektives Gedächtnis aufzunehmen.“ Die Namen der bisher bekannten Opfer wurden bereits 2015 durch den Stadtarchivar in einem Gedenkbuch aufgenommen. Laut Tobias-Jan Kohler konnten erste Lebensgeschichten in einer Kombination von digital und analog bereits in die Gedenkseite aufgenommen und erste Gedenktafeln an den ehemaligen Lebensmittelpunkten dieser einstigen Mitbürger angebracht werden. Anhand der beiden Frauen stellte er das Konzept vor, das durch die Mitwirkung von Nachfahren oder interessierten Menschen wie die Schülerinnen der Helene-Weber-Schule lebt und ständig weiterentwickelt werden kann.
So hatte durch den Kontakt von Walter Jaeggle der in Buchen geborene Albert Lester, vormals Albrecht Levi, der noch im Oktober 2023 in Buchen zu Besuch war und im Alter von 96 Jahren in seiner Wahlheimat London kürzlich verstorben ist, in einem Video-Clip die bewegende und sehr berührende Geschichte seiner Tante Marie Wolf aufgenommen.
Die wirklich hart anmutende Geschichte von Susanna Stern, die 81-jährig auf den Tag genau vor 86 Jahren brutal von ihrem jungen Nachbarn ermordet worden war und auch alle vier Söhne durch das Regime verloren hatte, hatten Schülerinnen der Helene-Weber-Schule in ihrem Politik und Gesellschaftskurs bei Patrick Held erarbeitet.
Bürgermeister Burger betonte, „auch wenn wir nicht Schuld an dem damaligen Geschehen sind, so tragen wir doch die Verantwortung an die Erinnerung, dass so etwas nie mehr passiert!“ In diesem Sinne sei das Gedenkkonzept breit aufgestellt und die Bevölkerung sei eingeladen, sich aktiv am Erinnern und Gestalten zu beteiligen. Ansprechpartner sei Stadtarchivar Tobias-Jan Kohler.
Dieser erinnerte an die bereits aufgebauten Gedenkstätten und -veranstaltungen, an die Erinnerung durch die Vergabe von Straßennamen, die Gründung „Stiftung Bücherei des Judentums“, Forschungen, Ausstellungen, Gedenk- und Mahnmale als Grundidee der Buchener Erinnerungskultur. Diese werde durch die sich ständig entwickelnde neue Internetseite „buchen-gedenkt.de“ und die Tafeln aus einem Stahl mit Rostflair und weißem QR-Code, der Lebensgeschichte und Lebenskarte der jeweiligen Person beinhaltet, die Gedenkkultur von Buchen um ein weiteres Kapitel bereichern.
Da sich die Seite ständig weiterentwickelt, lohnt es sich, öfter mal hineinzuschauen. Wenn am gestrigen 11.11. mal wieder der „Kerl wach uff“ durch die Gassen tönt, erinnert sich sicher der eine oder andere auch an den jüdischen Mitbürger und Komponisten Jakob Mayer, dem Buchen vieles zu verdanken habe und der von den Nazis ebenfalls geächtet und isoliert und schließlich in den Freitod getrieben worden ist.
In Buchen sei man sich bewusst, dass jüdisches Leben, jüdisches Denken und jüdisches Fühlen seinen festen Platz in der Stadt, aber auch den Herzen hat – unter anderem im „Kerl wach uff“. Und man hält es mit Dietrich Bonhoeffer: „Mag sein, dass morgen der jüngste Tag anbricht. Dann wollen wir gern die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen – vorher aber nicht“.
Unterstrichen wurde diese positive Lebenseinstellung durch das anschließende gemütliche Miteinander bei vielen Erinnerungen im schmucken Eberstadter Farrenstall.
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