Bad Mergentheim. Dass sie „ausführlich erstatten“ werde, hatte Dr. Ursula Gasch bereits in der vorangegangenen Sitzung des Physio-Prozesses angekündigt. Etwa drei bis vier Stunden werde sie wohl brauchen, mit der Beantwortung der einen oder anderen Frage noch etwas länger. So viel vorab: Es dauerte länger. Viel länger.
Doch von vorne. Die Kriminalpsychologin aus Tübingen sollte ein aussagepsychologisches Gutachten zur Nebenklägerin erstellen. Dies hatte Verteidigerin Charlotte Warken-Luxenburger in den ersten Verhandlungstagen vor rund einem Jahr beantragt. Daraufhin wurde der Prozess für die Erstellung dieses vorläufigen, schriftlichen Gutachtens unterbrochen. An den seit Mitte März 2025 durchgeführten Verhandlungstagen nahm Gasch ebenfalls teil und erstattete nun in der jüngsten Sitzung ihr endgültiges Gutachten. Zuvor hatte sie sich in einem rund vierstündigen „klinischen Interview“ mit der Nebenklägerin unterhalten, wie sie einleitend vor Gericht erklärte.
In ihren mehrstündigen Ausführungen ging sie nicht nur auf zahlreiche Aspekte rund um die Aussage der Nebenklägerin ein. Auch das Privatleben der Frau samt Kindheit und Jugend thematisierte sie ausführlich. Dies sei zum Verständnis wichtig. Es geht bei so einem aussagepsychologischen Gutachten also nicht nur darum, das vor Gericht Gesagte zu analysieren. Auch der Mensch dahinter wird sehr penibel durchleuchtet. Schulische Leistungen, die Beziehung zu den Eltern, Sexualverhalten und Alkoholkonsum – die Psychologin sparte kein Thema aus.
Gutachterin beschreibt Nebenklägerin als „emotional aufgekratzt“
Zur Aussage selbst nahm sie insbesondere die Aussagetüchtigkeit, -validität und -qualität in den Blick. Ein solches aussagepsychologisches Gutachten wird dann beauftragt, wenn nicht sicher beurteilt werden kann, ob eine Zeugenaussage auf tatsächlichem Erleben beruht. Da im konkreten Fall Aussage gegen Aussage steht, könnte ein solches Gutachten im Prozess dabei helfen, das Gewicht der Aussage besser einzuschätzen.
Nachdem Gasch in rund eineinhalb Stunden das Privatleben der Nebenklägerin ausführlich thematisiert hatte, kam sie im Anschluss auf den Eindruck der Frau im klinischen Interview zu sprechen. „Sie wirkte stellenweise emotional aufgekratzt und nervös, war bei Nachfragen teils kommunikativ überfordert“, beschrieb sie Eindrücke aus dem Gespräch. Die Psychologin sah durchaus „Hinweise auf traumaspezifische Symptome“, wie sie beim Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) auftreten. Allerdings: „Das kann nur der Verdacht auf eine PTBS sein. Für eine Diagnose braucht es einen konkreten Auslöser und gerade der ist ja Thema der Hauptverhandlung.“
Eine bedeutende Einschränkung, welche die Gutachterin selbst vornahm. Denn ein solches Gutachten hat methodische Grenzen, kann die Wahrheitsfindung eines Gerichtsprozesses nicht ersetzen. Es folgt zudem einer eigenen Logik, die nicht immer das bedient, was ein Jurist gerne hören würde. Das wurde beispielsweise deutlich, als Verteidigerin Charlotte Warken-Luxenburger wiederholt Fragen mit den Worten „Können Sie ausschließen, dass...?“ einleitete. „Ich bin als Gutachterin nicht in der Position, Dinge auszuschließen. Es gibt mit Blick auf die Forschung hinreichende Wahrscheinlichkeiten, aber keine 100 Prozent“, erklärte die erfahrene Kriminalpsychologin ihre Arbeit.
Vorwürfe einzeln analysiert – nicht alles „hinreichend feststellbar“
Penibel analysierte die Gutachterin die Vorwürfe jeweils einzeln. Sei es das mögliche Berühren mit der Hand im Schambereich der Frau, das Streicheln ihrer Brust, das Kompliment des Angeklagten in Richtung der Frau und auch die plötzliche Feuchtigkeit, die die Nebenklägerin auf einer Brust gespürt haben will. Allgemein sah Gasch keine Hinweise auf ein „Einreden“ des Vorfalls oder der Symptome als eine Art „Pseudoerinnerung“. Auch sah sie keine „rachegetriebene Motivation“ bei der Frau. Ein bloßes „ergoogeln“, also Beeinflussung durch Internetrecherche, hielt sie ebenfalls für unwahrscheinlich. „Das würde bei einer stabilen Person nicht reichen, eine PTBS braucht ein Einfallstor“, erklärte sie. Dass jedoch eine Beeinflussung durch länger kursierende „vage Gerüchte“ bestehe, wollte sie zumindest „nicht ausschließen“.
Kern des Gutachtens bildete die Frage, inwiefern die Schilderungen aus Sicht der Psychologin nun „erlebnisbasiert“ waren. Hier kam die Gutachterin zu einem gemischten Bild bei Analyse jeder einzelnen Tat. Während sie beispielsweise das Streicheln der Brust für „allgemein plausibel“ hielt, seien ihr andere Aussagen (etwa zur Hand im Schambereich) „zu unscharf“. Nicht jede Handlung müsse zudem einen Sexualbezug aufweisen, gab sie zu bedenken. Dass die Aussage vor Gericht „sehr ungesteuert“ war, spreche ihrer Ansicht nach für „erlebnisfundiertes Schildern“.
Insgesamt ist auch ein solches Gutachten nur ein Baustein der Beweisaufnahme. Wie die Gutachterin selbst anmerkte, „liegt die Würdigung der Erkenntnisse beim Gericht.“ Heißt also: Für die rechtliche Würdigung einer vollständigen oder teilweisen Glaubhaftigkeit ist weiter das Gericht verantwortlich. Ob sie seiner Mandantin glaube, dass diese Erlebtes geschildert habe, wollte Nebenklagevertreter Josef Gläser wissen. Dies sei mit Blick auf manche vorgeworfenen Handlungen „nicht hinreichend feststellbar“, erwiderte die Sachverständige. Allgemein merkte sie aber an, dass die Nebenklage „keinen Eindruck von Belastungseifer macht. Sie macht auch immer wieder Angaben, die den Angeklagten entlasten.“ Allgemein gab sie zu bedenken, dass eine Falschaussage mit derart vielen Details nur sehr schwer über die Dauer eines Prozesses aufrechterhalten werden könne. Wie so oft also kein klares Ja oder Nein.
Verschiedenes spricht für „Erlebnisfundiertheit“
Es sei der Frau jedoch gelungen, eine konstante Aussage zu machen. Beim Vergleich verschiedener Aussagen (bei der Polizei, vor Gericht und im klinischen Interview) gebe es „keine bedeutsamen Auffälligkeiten“. Auch zeitnahe Äußerungen über die vermeintlichen Taten bereits kurz nach den fraglichen Behandlungen gegenüber verschiedenen Personen sprächen für eine „Erlebnisfundiertheit“. Insgesamt sah sie diese zumindest bei zwei Vorwürfen als gegeben.
Die Verteidigung brachte in ihrer Befragung zahlreiche Alternativhypothesen an. Ob sich die Nebenklägerin nicht beispielsweise sexuelle Hoffnungen bezüglich ihres Mandanten gemacht hatte und nun ein schlechtes Gewissen gegenüber ihrem Ehemann habe? Ob sich im Verhalten der Frau nicht doch ein „Belastungseifer“ feststellen lasse? „Dafür gibt es keine Anhaltspunkte, das ist abwegig“, erwiderte die Gutachterin knapp. Belastungseifer sah sie auch auf Nachfrage nicht. „Ich sehe viel Verzweiflung und Unsicherheit“, ordnete die Psychologin das damalige Verhalten der Nebenklägerin ein.
Nach einer rekordverdächtig langen Sitzung von rund neun Stunden endete die Aussage der Gutachterin. Das Verfahren hingegen ist noch immer nicht beendet. Mitte April soll es einen weiteren Termin geben. Ob es dann ein Urteil geben wird, ist weiter offen. Die Verteidigung stellte bereits einen Beweisantrag, sie möchte ein weiteres aussagepsychologisches Gutachten. Dies könnte erneut eine mehrmonatige Unterbrechung bedeuten, sollte das Gericht dem Antrag stattgeben.
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