„Heute ist mir die Abstandsnudel über den Weg gelaufen“

Von 
Stefan M. Dettlinger
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Annette Klosa-Kückelhaus (Bild) ist beim Institut für Deutsche Sprache Leiterin des Bereichs Lexikographie und Sprachdokumentation. Unter ihrer Führung entsteht derzeit eine umfassende Darstellung neuen Wortschatzes rund um Corona. Im Interview berichtet sie von Ihrer Arbeit rund um die sogenannten Neologismen, also die neuen Wörter.

Frau Klosa-Kückelhaus, sind Sie eigentlich auch schon „overzoomed“?

Annette Klosa-Kückelhaus: Absolut (lacht). Ich hatte gerade schon wieder ein längeres Video-Meeting, und das ist, finde ich, schon ermüdend. Die Kommunikation ist anders und auch anstrengender insofern, als man da auch wieder vor dem Bildschirm sitzt, während man ja sonst bei Besprechungen endlich mal davon wegkommt.

Mein neues Lieblingswort ist Anderthalbmetergesellschaft. Haben Sie auch eines?

Klosa-Kückelhaus: Ich habe immer wieder neue. Es ist schlimm. Immer, wenn ein neues Wort daherkommt, denke ich: Ach, das ist besonders schön. Heute Morgen ist mir zum Beispiel die Abstandsnudel über den Weg gelaufen, das ist so eine Schwimmnudel für den Pool, die man jetzt verwenden will, damit die Leute den Anderthalbmeterabstand auch einhalten.

Was kommt in Ihre lexikalische Übersicht, was nicht?

Klosa-Kückelhaus: Also rein kommen vor allem nur Neologismen, denn es gibt ja auch ganz viele ältere Wörter, die jetzt auf einmal häufig verwendet werden. Auch die in die Hunderte gehenden Zusammensetzungen mit Corona nehmen wir nur dann auf, wenn sich die Wörter nicht aus sich selbst erklären. Beispiel: Coronamode - da fragt man sich: Gibt es da jetzt eine Mode für den Mundschutz, oder ist gemeint, was sich die Leute zuhause anziehen? Also wenn es nicht durchsichtig ist, kommt es rein.

Solche Wörter wie das alte Epizentrum, das eine neue Bedeutung weg vom Erdbeben bekommen hat, steht im Corona-Neologismen- Wörterbüchlein aber drin …

Klosa-Kückelhaus: … Neudeutungen nehmen wir auch auf, grundsätzlich. Und da gibt es eine ganze Reihe. Exit zum Beispiel ist alt, aber jetzt bedeutet es plötzlich, dass man aus dem Lockdown rausgeht. Bei Geisterspiele ist es genauso. Das gab es, aber jetzt heißt es eben doch etwas Anderes. War es zuvor eine Strafe, so ist das jetzt etwas Positives, das überhaupt gespielt werden darf.

Hingegen steht so ein Begriff wie Munaske nicht einmal in der Rubrik „unter Beobachtung“. Warum?

Klosa-Kückelhaus: Munaske? Das habe ich noch nie gehört. Das ist ein schöner Tipp für mich, danke.

Steht wohl für Mundnasenmaske.

Klosa-Kückelhaus: Wunderbar! Dem muss ich nachgehen. Ein schönes Kofferwort bei dem der Anfang des ersten und zweiten und das Ende des dritten Wortes zu einer Einheit finden.

Mal wieder dominiert das Englische. Liegt das an der Weltsprache oder an der Coolness des Sounds, womit schon wieder zwei Anglizismen angewandt wurden?

Klosa-Kückelhaus: Also ich finde nicht, dass das Englische dominiert. Da sind zuhauf normale deutsche Zusammensetzungen, aber ja, es gibt auch etliche und in den Medien sehr präsente Anglizismen. Shutdown und Lockdown. Ob die jetzt verwendet werden, weil sie cool sind – ja und nein. Die bezeichnen auch etwas Spezielleres, als wir das im Deutschen etwa mit Stillstand bezeichnen könnten oder mit Stilllegung. Vielleicht schwingt auch so etwas mit, dass man versucht, ein sehr negativ klingendes Wort wie Stillstand zu vermeiden.

Wir sagen ja auch Homeoffice und nicht Heimarbeit …

Klosa-Kückelhaus: Mit Homeoffice assoziiert man schon moderne Telekommunikationsmaßnahmen. Das geht eindeutig in Richtung einer Bürotätigkeit, bei Heimarbeit schwingen handwerkliche Dinge mit.

Covid-19 beschleunigt also nicht die Anglisierung des Deutschen?

Klosa-Kückelhaus: Auf keinen Fall. Schauen Sie sich an, wie produktiv die Sprecherinnen und Sprecher mit der deutschen Wortbildung umgehen, das sind nicht nur Zusammensetzungen, sondern auch wunderschöne Ableitungen, die gebildet werden. Oder auch ein anderes Kofferwort: Covidiot und die Ableitung Covidiotin dazu.

Gerade bei Covidiotin ist es doch so, dass da eine lustig klingende Beinote auf sehr traurige, bisweilen sogar lebensgefährliche Umstände trifft …

Klosa-Kückelhaus: … ja, das begegnet uns als Lexikografen natürlich immer wieder. Wir haben ständig mit Dingen zu tun, die wir nicht gut finden, die wir ablehnen, die wir traurig finden oder die eine Meinung transportieren, die nicht unsere ist. Da müssen wir abstrahieren. Das Wort muss trotzdem ins Wörterbuch. Wir haben aber bei einigen Beispielen dennoch darauf verzichtet, weil man zu viel erklären müsste. Wenn jemand von italienischen Verhältnissen spricht, dann genügt es nicht zu sagen, das bedeutet dies und das. Da muss man dann schon erklären, wer den Begriff geprägt hat und welche Wertung damit verbunden ist.

Arbeiten Sie an einem One-Way- Lexikon? Wie lange werden sich die Begriffe postcoronal halten? Und gibt es Neologismen aus früheren pandemischen Zeiten, etwa von der Pest oder der Spanischen Grippe?

Klosa-Kückelhaus: Also das Wort Spanische Grippe ist schon ein Neologismus, der damals geprägt wurde. Die Pest ist zu lange her. Da weiß ich nichts. Aber ich nehme mal an, dass auch da Begriffe entstanden sind, die es noch gibt. Und was werden wir behalten von den Coronawörtern? Nur einen Bruchteil. Davon gehe ich aus. Das sieht man auch an unserem Wörterbuch sehr schön. Normalerweise warten wir ja zwei, drei Jahre, bis wir ein Wort aufnehmen. Ich denke, Corona und Coronakrise werden überleben, aber das meiste nicht.

Ist das für Sie auch frustrierend, dass sich Ihr Forschungsgegenstand über die Jahre fast in Luft auflöst?

Klosa-Kückelhaus: Ah, so würde ich das ja gar nicht sehen. Viele Neologismen bleiben uns erhalten, es gibt schon welche, deren Lebenszeit ist etwas kürzer, aber dann kommen ja immer neue. Uns geht nie das Material aus. Insofern macht meinen Kolleginnen, Kollegen und mir die Arbeit unheimlich viel Spaß.

Wann werden sich die coronalen Neuschöpfungen erschöpfen?

Klosa-Kückelhaus: Gute Frage. Ehrlich gesagt, die letzten Tage hatte ich schon den Eindruck. Aber heute habe ich wieder eine Liste, die ich abarbeiten muss. Zehn Sachen, die mir in den Medien aufgefallen sind. Aber es wird langsam weniger. Das Thema ist jetzt fest in unserem Leben verankert.

Warum kreiert eine Gesellschaft so viele neue Wörter in so kurzer Zeit?

Klosa-Kückelhaus: Weil uns vor allem so viele neue Dinge begegnen oder neue Begebenheiten. Auf die muss man reagieren. Diese Krise hat uns alle im Alltag getroffen, ganz anders als damals bei der Finanzkrise, wo wenig Menschen tatsächlich im Alltag betroffen waren. Aber Corona trifft uns alle, in der Schule, im Supermarkt, überall. 

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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