„Ein Hark Bohm-Film von Fatih Akin“: Mit dieser Vorspann-Zeile wird „Amrum“ eröffnet. Womit auf den Punkt gebracht ist, worum es sich hier handelt: ein Ausnahmeprojekt, ein Geschenk, das Fatih Akin, 2004 Goldener-Bär-Gewinner für „Gegen die Wand“, seinem Freund und Mentor macht.
Ursprünglich hatte Bohm – Schauspieler („Berlin Alexanderplatz“) und Galionsfigur der Neuen Deutschen Films, bekannt für Jugendfilme wie „Nordsee ist Mordsee“ (1976) oder „Moritz, lieber Moritz“ (1978) – die autobiografische Geschichte als letztes Regieprojekt geplant. Als ihm, Jahrgang 1939, klar wurde, dass er aus Gesundheitsgründen dazu nicht mehr in der Lage sein würde, bot er den Stoff Akin an. Der griff nach längerem Zögern zu.
Das bereits während der Covid-Pandemie per Hand zu Papier gebrachte Drehbuchs Bohms war viel zu lang, musste umgeschrieben und gestrafft werden. Gemeinsam machte man sich ans Werk, wie schon bei der Wolfgang-Herrndorf-Adaption „Tschick“ oder dem NSU-Melodram „Aus dem Nichts“.
Für Akin sollte die Arbeit den Geist seiner „filmischen Sozialisierung“, Rob Reiners „Stand by Me“, atmen. Dabei freilich ganz im Sinne von Bohm und dessen Erlebnissen und Erinnerungen bleiben. So wurde der Auftrag zu einer Mission, die von tiefer Freundschaft geprägt ist. Im Kern ist „Amrum“ eine Coming-of-Age-Mär, die von der Vertreibung aus dem Paradies erzählt und auf eine Reise in die (Un-)Tiefen der „deutschen Seele“ führt.
Weissbrot mit Butter und Honig: Nanning möchte seiner Mutter einen Herzenswunsch erfüllen
Amrum, 1945. Kurz vor Kriegsende glaubt die dreifache Mutter Hille (Laura Tonke), eine stramme Nationalsozialistin – ihr SS-Gatte sitzt in britischer Kriegsgefangenschaft –, noch immer fest an den Endsieg. Aus Hamburg hat sich die Familie, in neunter Generation Nachkommen von Walfängern, in ihr Stammhaus in Sicherheit gebracht. Das Leben vor Ort ist – wie in ganz Deutschland – hart. Ihr zwölfjähriger Sohn Nanning (Jasper Billerbeck) hilft jeden Tag mit seinem besten Freund Hermann (Kian Köppke) auf den Feldern der kantigen Bäuerin Tessa (Diane Kruger) mit. Kartoffeln gibt’s dafür, dringend benötigte Lebensmittel.
Derweilen fliegen über ihren Köpfen die alliierten Bomber Richtung deutsches Festland, um das Terrorregime Adolf Hitlers endgültig zu Fall zu bringen. Wer überleben und für die Seinen sorgen will, muss anpacken. Wie Nanning. Er sammelt nachts im Mondschein Treibholz, fängt in den Dünen Kaninchen. Dennoch bleibt er im Dorf ein Außenseiter. Als „Festländer“ begegnet man ihm mit Misstrauen, in der Schule wird er gehänselt. Nicht zuletzt, weil seine hochschwangere Mutter in Nibelungentreue am Führer festhält, obwohl alle längst wissen, dass das „Dritte Reich“ bald Historie sein wird.
Kurz nach der Kapitulation bringt Hille ihres viertes Kind zur Welt, versinkt darüber in tiefe Depression und verweigert jedes Essen. Nur nach Weißbrot mit Butter und Honig steht ihr der Sinn. Und fortan setzt Nanning alles daran, seiner Mutter ihren Wunsch zu erfüllen – per Tauschhandel, Robbenjagd und notfalls Diebstahl …
Laura Tonke
- Im Alter von 15 Jahren wurde Laura Tonke auf einem Schulhof in Berlin-Schöneberg für die Hauptrolle in Michael Kliers Wendedrama „Ostkreuz“ (1991) entdeckt. Die Tochter des Filmausstatters Michael Tonke, 1974 im damaligen West-Berlin geboren, studierte drei Jahre Theaterwissenschaften und stand da schon in TV- und Filmproduktionen vor der Kamera .
- So war sie auf dem Bildschirm etwa in „Schimanski – Die Schwadron “ sowie einigen „Tatort“-, „Polizeiruf 110“- oder „KDD – Kriminaldauerdienst“-Folgen zu sehen.
- Im Kino wirkte die vielseitige Mimin, die auch als Model für Modemagazine arbeitet, unter anderem in Tom Tykwers „Winterschläfer “, Sönke Wortmanns „St. Pauli Nacht “, als Gudrun Ensslin in „Baader “, Lars Kraumes „Der Staat gegen Fritz Bauer “, Helene Hegemanns „Axolotl Overkill “, in „A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe “, „Caveman “ und jüngst als alkoholkranke Mutter der von Luna Wedler gespielten Heldin in „22 Bahnen “ mit.
- 2016 wurde sie für ihre Rollen in „Hedi Schneider steckt fest “ beziehungsweise „Mängelexemplar “ jeweils mit einem Deutschen Filmpreis belohnt.
- Seit 2007 gehört Tonke, Mutter eines Sohnes, dem deutsch-britischen Performance-Kollektiv „Gob Squad“ an. Zudem kann man sie in Musikvideos von Bosse oder „Ich bin müde“ von Fettes Brot bewundern. geh
Ein Abenteuerfilm, bei dem es um Leben und Tod, um Zusammenhalt, Freundschaft und das Erwachsenwerden geht. Präzise inszeniert, von Kameramann Karl Walter Lindenlaub („Independence Day“) – er ersetzt erstmals Akins angestammtem Kameramann Rainer Klausmann, der sich altersbedingt zur Ruhe gesetzt hat – in klaren, farbechten und erdigen Bildern festgehalten.
Gesprochen wird Deutsch und Öömrang, ein friesischer Dialekt, der nur auf Amrum zu hören ist. Authentizität ist angesagt, schmückende Beiwerk fehlt. Man lebt von und mit der Natur, weiß um die Gefahren des Wetters und des Watts.
Laura Tonke besticht in ihrer undankbaren Rolle als Nazi-Sympathisantin
Bis in die kleinste Rolle hinein stimmig, angeführt von der vielversprechenden Leinwandentdeckung Billerbeck, ist die Besetzung. Tonke („Baader“) besticht in ihrer undankbaren Rolle als Nazi-Sympathisantin – ein Highlight jene Szene, in der sie in einer Metzgerei eine Wurst stiehlt, weil sie mit ihren Reichs-Essensmarken nichts mehr kaufen kann –, die ein großes Herz für ihre Kinder besitzt und sich laufend mit ihrer willensstarken Schwester Ena, verkörpert von Lisa Hagmeister („Systemsprenger“), in den Haaren liegt.
Stark ist zudem Kruger („Inglourious Basterds“), die, gegen ihr Starimage eingesetzt, mit Kittelschürze und Kopftuch dem NS-Ortsvorsteher trotzt, und Akins Regie-Kollege Buck („Karniggels“), der als hemdsärmeliger Fischer glänzt. Zu Recht wurde „Amrum“ bei der Weltpremiere in Cannes mit Standing Ovations gefeiert.
URL dieses Artikels:
https://www.fnweb.de/leben_artikel,-musik-buecher-film-streaming-amrum-von-fatih-akin-von-der-vertreibung-aus-dem-paradies-_arid,2332682.html