Mannheim. Übrigens ...
... wird kaum ein Kleidungsstück so innig mit Bayern, Almen und uriger Gemütlichkeit verknüpft wie das Dirndl. Wer es trägt, fühlt sich sofort wie eine Sennerin auf dem Weg zur Viehscheid – auch wenn der Weg eigentlich zum Festzelt führt. Die Vorstellung: tief verwurzelt in bäuerlicher Tradition, gewachsen aus dem Alltag der Landbevölkerung. Die Realität: ein Modeprodukt aus der Stadt, erfunden von jüdischen Unternehmern, vermarktet für die feierfreudige Bourgeoisie.
Denn das Dirndl ist keineswegs ein Relikt aus der bäuerlichen Vergangenheit. Es ist ein Kind der Moderne, und zwar der städtischen. In den 1930er Jahren machten die jüdischen Modemacher Julius und Moritz Wallach das Dirndl salonfähig. Ihre Firma Wallach in München verkaufte Trachtenmode an Städter, die sich nach einem Hauch Landleben sehnten. Das Dirndl war dabei weniger authentisch als atmosphärisch – ein Kostüm für die Sehnsucht nach Einfachheit, Natur und Butterbrotromantik. Es war das Outfit der Städterin, die sich für ein Wochenende in die Illusion einer Almwirtschaft kleidete. Die echte Bäuerin trug praktische und robuste Arbeitskleidung. Spitze und Tüll? Undenkbar. Wer je einen Balconette-BH bei der Gartenarbeit oder sonstigen Tätigkeiten, bei denen man sich nach vorn beugen muss, getragen hat, weiß, warum auch die Unterwäsche nichts mit der Realität einer Bäuerin zu tun gehabt hat. Die Dirndlmode hingegen lebt von genau diesen Zutaten: Sie ist eine Inszenierung, keine Überlieferung.
Dass das Dirndl heute als Symbol bayerischer Identität gilt, ist also ein modischer Irrtum mit langer Geschichte. Die Nationalsozialisten griffen das Kleid auf, stilisierten es zur deutschen Tracht und verdrängten dabei gezielt seine jüdischen Ursprünge. Nach dem Krieg wurde das Dirndl zum festen Bestandteil der Volksfestkultur und zur Projektionsfläche für alles, was man sich unter Tradition so vorstellt. Es ist ein Paradebeispiel dafür, wie Mode Geschichte schreibt – oder umschreibt.
Wer nun beim Mannheimer Oktoberfest ein Dirndl trägt, feiert also weniger das Landleben als die Vorstellung davon. Und das ist völlig in Ordnung. Nur sollte man wissen, dass die Wurzeln des Dirndls nicht im Kuhstall liegen, sondern im Schaufenster eines Münchner Modegeschäfts.
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