Eppelheim. Kai Ortlieb hat ein dickes Bündel Papier in eine Maschine eingespannt und taucht jetzt einen großen Pinsel in einen Eimer Flüssigklebstoff. Sorgfältig verteilt er das Material auf dem künftigen Buchrücken, kippt das Papier nach links und nach rechts, damit der Kleber auch seitlich gut an die Kanten kommt. „Das Buch soll nicht irgendwann auseinanderfallen, auch wenn es oft durchgeblättert wird“, sagt er.
Zum Schluss legt er zwei Schichten Gaze – also leichtes Gewebe – über den Buchrücken und klemmt das frisch gebundene Werk zwischen zwei Bretter. Fünf Stunden muss es hier nun erstmal liegen. „Eine Horrorvorstellung für meine Kollegen in der Industrie, da müssen in einer Stunde ja zig Bücher produziert werden“, sagt Ortlieb und lacht.
Wenn der Buchbindermeister aus Eppelheim ein Standardbuch in seiner Werkstatt bindet, braucht es dagegen Zeit: 16 Arbeitsschritte sind nötig, die sich über fünf Tage ziehen. Dazu können je nach Auftrag Besonderheiten kommen: ein aufwändig gestalteter Einband, Seiten mit Goldschnitt oder ein mit goldenen Buchstaben geprägter Buchrücken. Verschiedene Spezialmaschinen hat Ortlieb dafür über die Jahrzehnte angeschafft, in Schubladen liegen ordentlich sortiert zahlreiche Lettern – also Metallbuchstaben – in verschiedenen Größen und Schriften.
In den letzten 30 Jahren haben viele Buchbindereien aufgegeben
Seit gut 30 Jahren hat Ortlieb inzwischen seinen eigenen Betrieb, eine Zeit, in der sich die Branche stark verändert hat. So sei durch die Digitalisierung eine einst wichtige Kundengruppe weggebrochen: Forschungseinrichtungen, die früher in großem Umfang Fachpublikationen binden ließen, veröffentlichen vieles heute nicht mehr in gedruckter Form.
„Früher gab es teilweise große Buchbindereien, die sich auf der grünen Wiese angesiedelt hatten und dann mit Bussen die Arbeiten bei umliegenden Forschungseinrichtungen eingesammelt haben. Da gab es einen heftigen Einbruch und viele mussten aufgeben“, sagt Ortlieb. Auch er selbst fertigt heute nur noch selten größere Auflagen: „Früher hatten wir auch mal Aufträge mit bis zu 500 Exemplaren, heute sind es eher 150 bis 200. Und das meiste sind Kleinstmengen oder Einzelstücke.“
Dass die Branche im Wandel ist, bestätigt auch eine Nachfrage beim Bund Deutscher Buchbinder in Aachen. Demnach gab es 2024 bundesweit noch knapp 650 handwerkliche Betriebe, vor 20 Jahren seien es noch doppelt so viele gewesen. Auch in der Region sinkt die Zahl der Anbieter. Wie eine Sprecherin der Handwerkskammer Mannheim Rhein-Neckar-Odenwald erklärt, gab es Ende Juni noch sechs Buchbindereien im gesamten Bezirk. Auch in Mannheim existiert noch ein Betrieb. Vor 20 Jahren seien es im Kammergebiet 13 Betriebe gewesen. Ausgebildet wird aktuell in der Region in dem Beruf laut Kammer überhaupt nicht.
Buchbinder: ein immer seltenerer Beruf
Zum handwerklichen Buchbinder werden heute nur noch wenige Menschen ausgebildet. Nach Angaben des Bundes Deutscher Buchbinder (BDBI) wurden 2024 insgesamt 27 neue Ausbildungsverträge in Deutschland geschlossen.
Dem BDBI zufolge gibt es für eine Ausbildung in diesem Bereich potenziell mehr Bewerber als Lehrstellen.
Im Bezirk der Handwerkskammer Mannheim Rhein-Neckar-Odenwald wird derzeit laut Kammer niemand zum Buchbinder ausgebildet. Der letzte Ausbildungsvertrag sei in der Lehrlingsrolle von 2012 bis 2015 bei einem Mannheimer Betrieb eingetragen gewesen, heißt es. Davor sei zwischen 2005 und 2008 eine Person in Heidelberg ausgebildet worden.
Auch Buchbindermeister Ortlieb, der sein Geschäft als Ein-Mann-Betrieb führt, bildet nicht mehr aus. Trotzdem hofft er, dass sich jemand findet, der seine Buchbinderei, sein Lebenswerk, übernimmt, wenn er in einigen Jahren in den Ruhestand geht. Dass sein Handwerk, das seit 2021 in Deutschland zum immateriellen Kulturerbe zählt, dann noch gefragt sein wird, davon ist Ortlieb überzeugt: „Der Berufsstand konsolidiert sich, aber er stirbt nicht aus, genauso wenig wie das Buch selbst“, sagt er. Die Buchbinderei werde zwar immer mehr zur Nische: „Aber auch da kann man es sich gemütlich machen.“
Für den Handwerksmeister aus Eppelheim ist heute das Geschäft mit Privatkunden das wichtigste Standbein. „Der Klassiker sind Kunden, die mit einem zerlesenen oder zerfledderten Buch kommen, das ihnen am Herzen liegt“, sagt Ortlieb. Auch das „gute alte Fotoalbum“ sei wieder gefragt. „Da gibt es eine Art Renaissance, ähnlich wie bei Schallplatten.“
Wie aufs Stichwort kommt eine Kundin in die Werkstatt, Ortlieb kennt sie schon. Heute holt sie vorsichtig ein altes, schwarzes Buch aus der Tasche: Schwarz-weiß Fotos auf vergilbtem Papier, der Buchrücken ist mit Klebeband provisorisch zusammengehalten. Es ist ein Erbstück, das ein Bekannter aus Schweden geschickt hat.
Buchbinder Ortlieb in Eppelheim bindet nicht nur Bücher
Ortlieb legt das Buch auf seinen penibel aufgeräumten Arbeitstisch, blättert behutsam darin, begutachtet den Einband. „Das ist ursprünglich fadengeheftet, also genäht. Das könnte man zwar wieder so machen, dann wird es aber teuer.“ Der Buchbinder schlägt stattdessen vor, die Seiten hinten minimal abzuschneiden und dann mit Klebstoff zu binden. Kostenpunkt: Etwa 140 Euro.
Beim Buchrücken winkt Ortlieb ab: Durch das Klebeband ist hier nicht mehr viel zu retten. Die Kundin scheint trotzdem zufrieden und lässt das Buch zur Reparatur im Laden. In zwei, bis drei Wochen, sagt der Buchbinder, könne sie es wieder abholen.
Es macht Sinn, die ganze Bandbreite der Buchbinder-Ausbildung zu nutzen
Bücher sind unterdessen nicht das einzige, was Ortlieb in seinem Laden bearbeitet: Er rahmt Bilder und fertigt Passepartouts, restauriert Gitarrenkoffer oder alte Fächer, reinigt Ölgemälde. Auch Schachteln für wertvolle Uhren, Buchschuber oder Kassetten für lose Blattsammlungen fertigt er an. „Es macht Sinn, die ganze Bandbreite der Buchbinder-Ausbildung zu nutzen“, sagt der Handwerksmeister. Die breite Aufstellung habe ihn vor dem Schicksal manches Wettbewerbers bewahrt, der sich zum Beispiel ganz auf das Binden von Fachzeitschriften spezialisiert habe und irgendwann vom Markt verschwunden ist.
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